Sparta – Kritik
Im zweiten Teil seines „Diptychons über zwei Brüder“ zwingt Ulrich Seidl sein Publikum dazu, den Blick des pädophilen Ewald auf Kinder einzunehmen. Sparta untersucht Machtverhältnisse, indem er uns die Brille des Überlegenen aufsetzt.

„An das Gute im Menschen glaube ich nicht“, sagte Seidl einmal in einem Interview. Diese Haltung muss man hinnehmen, wenn man sich seine Filme anschaut. In seinen strengen, kalten Bildkompositionen finden sich die körperlich und moralisch Deformierten wieder, verstecken in den Kellern ihre Nazi-Memorabilien, nutzen Macht aus, folgen Trieben. Doch spätestens in Rimini (2022) ließ sich trotz aller Formtreue eine Veränderung in Seidls Blick erkennen, eines Künstlers im Herbst seines Schaffens: Seine Gestalten treten aus ihren Käfigen und werden sich ihrer Einsamkeit bewusst. Seine Erzählung gewann eine zärtliche Dimension.
Rimini und Sparta bilden Seidls „Diptychon über zwei Brüder“. Während sich Ersterer um den abgehalfterten Schlagersänger Richie Bravo (Michael Thomas) dreht, der im titelgebenden italienischen Ferienort seinen Unterhalt als Touristenunterhalter und Escort verdient, konzentriert sich Sparta nun auf seinen Bruder Ewald (Georg Friedrich). Der Film setzt sich mit dessen pädophilen Neigungen auseinander und erzählt, wie er unter einem Vorwand sozial benachteiligte Kinder aus der Provinz in seinen Dunstkreis zieht.
Empathie mit dem Täter

Ewald ist sanft und in sich gekehrt. Er lebt mit seiner Partnerin (Florentina Elena Pop) in Rumänien, die ihn zur Heirat drängt. Doch ein unausgesprochenes Geheimnis liegt zwischen ihnen, das sich zuerst in Ewalds Blicken und subtilen Gesten andeutet, wenn er mit seinen Neffen rangelt oder alleine mit ihnen fernsieht. Es ist schwer, kein Mitgefühl mit ihm zu empfinden, als er schließlich seine Koffer packt und ins Ungewisse aufbricht. Doch schließlich kauft Ewald von seinem Ersparten ein verlassenes Schulgebäude auf dem Land. Wie der Rattenfänger von Hameln rekrutiert er die Jungen aus der Nachbarschaft für kostenlose Judostunden. Bald baut er mit ihnen das Schulgebäude zu einem Holzfort um, über dessen Eingangstor der Name „Sparta“ prangt. Er bietet ihnen Abwechslung und Leichtigkeit, dann fotografiert er sie mit nacktem Oberkörper; die Fotos schaut er nachts auf seinem Fernseher an.
Nun lässt sich fragen, warum sich wieder einmal ein Film auf den Täter konzentriert und die Betroffenen als weitgehend namen- und gesichtslose Masse erscheinen lässt. Was ja auch irgendwie typisch ist für einen Regisseur, der seine Nebenfiguren in der Regel zur Ausschmückung für die inneren Konflikte der Hauptfiguren nutzt. Zugleich muss hier aber auf die Wirkung geblickt werden – es ist schwer vorstellbar, wie die Erzählperspektive von Sparta kein Unbehagen beim Publikum auslösen sollte, das gezwungen wird, Ewalds Blicke auf die Kinder mitzuverfolgen.
Heimatlose Männlichkeit

Seidel untersucht Machtverhältnisse, indem er uns die Brille des Überlegenen aufsetzt. Als eine Art Kolonisator dringt Ewald in die Ortschaft ein und entzieht die Kinder ihren Familien. Spätestens als sein dementer Vater (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle) durchs Pflegeheim irrt und regelmäßig den Arm zum Hitlergruß hebt, öffnet sich eine klare Interpretationsebene – das Jugendcamp mit dem kurzgeschoren Ewald darin erscheint plötzlich wie eine HJ-Zentrale, in der junge und orientierungslose Menschen in die Arme ihres Ausbeuters getrieben werden. In diesem Themengemenge fühlt sich der Berufspessimist Seidl ganz zu Hause. Dank seinem elliptischen Erzählstil wirken die Faschismus-Analogien aber nicht hölzern, er lässt genug Raum für Assoziationen und entwickelt am Ende eine erstaunliche Tragik.
Der Mann ist in Sparta ein trauriges Wesen. Von seinem Vater auf Härte und Kampfeswillen gedrillt, steht Ewald diesen Werten nun ratlos gegenüber. In der rumänischen Kleinstadt, in der er lebt, dümpeln die Männer wie losgerissene Bojen durch die nebligen Straßen und treffen sich höchstens in der Eckkneipe, um wortlos ein Glas Pálinka herunterzustürzen.
Ewald entzieht sich dieser Tristesse. Sparta zieht dabei eine zu selten betrachtete Unterscheidung zwischen Pädophilie und pädophilen Übergriffen; er beobachtet, wie weit Ewald diese Grenze in seinen Sehnsüchten zu überschreiten bereit ist. Vieles spielt sich dabei im Impliziten ab. Blicke und Gesten werden erst transgressiv durch das Vorwissen des Publikums. Schließlich stellt sich heraus, dass Ewald durch seine Annäherungen den Jungen eine Wärme und Zärtlichkeit bieten kann, die ihnen zu Hause fehlt. Spätestens hier entfaltet der Film eine ungemeine moralische Ambivalenz.
Der Selbstdemontage aus der Ferne zuschauen

Moralisch mindestens ambivalent waren allerdings auch die Drehbedingungen, über die im Vorfeld viel diskutiert wurde. Die Familien der Kinderdarsteller warfen der Produktionsfirma vor, im Voraus nicht genug über die Thematik informiert worden zu sein. Die Kinder seien bei teils schwierigen Szenen nicht ausreichend pädagogisch betreut worden. Recherchen des österreichischen Magazins Profil sprachen Seidl zumindest von diesen beiden Vorwürfen frei. „Ich provoziere und animiere die Darsteller, damit etwas vor der Kamera passiert, das nicht von vornherein festgelegt wurde“, sagte der Regisseur kürzlich. Die Frage bleibt, wie Seidls Methode der Grenzauslotung überhaupt mit der Arbeit mit Kinderdarstellern in diesem Setting vereinbar ist. Dass er von dem öffentlichen Widerspruch im Angesicht realer Kindeswohlgefährdung tatsächlich überrascht war, verstärkt den fahlen Beigeschmack beim Abspann noch, der einem schon aus seinen anderen Filmen vertraut ist.
Dabei bleibt Seidl in der Filmsprache für seine Verhältnisse behutsam. Seine Kamera wirkt weniger voyeuristisch, die Figuren kippen nicht zu sehr ins Karikierte. Doch projiziert er die Problematik der toxischen Männlichkeit wieder einmal auf ein grimmiges Anderes, nämlich hier auf den dementen Altnazi und den volltätowierten, rumänischen Proll. Das ermöglicht es dem Publikum dann, sich beruhigt zurückzulehnen und den Figuren bei der Selbstdemontage aus der Ferne zuzuschauen. Hierin liegt ein Problem von Seidls Machart, in der er nuancierte Charakterstudien mit seinem altbekannten Freakshow-Faible verbinden möchte. Letztlich bleibt er konsequent darin, dass sich nicht nur die Kinder, sondern im übertragenen Sinn alle Figuren bis auf die Unterhose ausziehen müssen.
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