Das Kino ist eine Scheibe. Zum Werk von Terence Davies
Gleich zwei Filme hat Terence Davies seit letztem Jahr gemacht, doch jenseits von Festivals werden sie in Deutschland wohl beide nicht zu sehen sein. Wir widmen dem britischen Regisseur im August eine ausführliche Retrospektive und beleuchten ein Werk, in dem die Kamera weniger durch den Raum als durch die Zeit zu gleiten scheint.

Häufig stehen Figuren von Terence Davies am Fenster und blicken hinaus. Mit einem Fenster zur Welt hat das Kino des Briten dennoch wenig zu tun. Den Blick nach draußen lässt das Fenster zwar zu, zugleich aber trennt es die Blickenden von diesem Draußen ab. Bei Davies ist das Fenster eine harte Scheibe, bevor es einen Durchblick ermöglicht. In seinen frühen autobiografischen Filmen ist diese Trennung noch eine, die auf ihre Überwindung hoffen darf. Die Fensterblicke der jungen Protagonisten ahnen hier noch etwas vom Wunder der Welt, auch Regen und Schnee hinter der Scheibe sind noch kindliche Affekte, keine erwachsenen Stimmungen. Diese sind eher jenen Frauen vorbehalten, die in Davies’ späteren Literaturverfilmungen am Fenster stehen. Die diese Welt nur allzu gut zu kennen und zu durchblicken scheinen und die doch nicht Teil von ihr sein können. Nur gucken, nicht anfassen, Tragik des Fensterblicks.
Am Anfang war die Zeit

Gleich zu Beginn seiner Filmografie sind diese beiden Blicke vereint: In Davies’ erstem Kurzfilm Children (1976) sitzt der kleine Robert im Bus und blickt seitwärts nach draußen. Wir sehen nur seinen Hinterkopf. Seine Mutter, die neben ihm sitzt, betrachten wir dagegen im Profil, wie sie starr geradeaus blickt, am Leben verzweifelt. Children und die zwei nächsten Filme, Madonna and Child (1980) und Death and Transfiguration (1983), werden später zur Terence Davies Trilogy zusammengefasst. Schon in diesem Werk deutet sich Davies’ eigenwilliger Umgang mit Zeit als ästhetischer Kern seines Kinos an. Niemals linear, immer assoziativ: Mit Schlagworten wie „Rückblenden“ oder „Traumsequenzen“ kommt man Davies nicht auf die Spur. Erinnerung ist keine Reise in die Vergangenheit, sondern eine Erfahrung in der Gegenwart. Wenn unterschiedliche zeitliche Ebenen in fließenden Übergängen oder assoziativen Montagen miteinander verschaltet werden, dann geht es um den Versuch, dieser Koexistenz von Vergangenem und Gegenwärtigem auf den Grund zu gehen.
Musik als materielle Spur

Da kann dann schon mal ein kitschiger Popsong zur Zeitmaschine werden. Schon Davies’ erster Langfilm Distant Voices, Still Lives (1988) verdeutlicht die entscheidende Rolle der Musik für seine Filme, als gewissermaßen materielle Spur der Erinnerung, die einen direkteren Zugang zur Vergangenheit ermöglicht, als es das Erschaffen von Bildern je könnte. Sein Umgang nicht nur mit der sorgsam ausgewählten extra-diegetischen Musik, sondern vor allem mit den Liedern, die die Figuren seiner Liverpooler Filme singen, ist dabei nicht zuletzt Korrektur jenes harten Realismus, der im englischen Kino der Nachkriegszeit den Anspruch auf ein authentisches Porträt der working class erhob und in dem kein Platz war für Hollywood-Musicals, für Doris Day und Debbie Reynolds. Für Davies hat Authentizität nichts mit Naturalismus, Armut nicht nur etwas mit Tristesse zu tun. Zwar schöpft er aus den eigenen Traumata – aus dem Aufwachsen als jüngstes von zehn Kindern in einem Liverpooler Slum, aus den religiösen Zwängen, die das erwachende homosexuelle Begehren von Beginn an als schamvollen Makel deuten –, reduziert seine Bilder aber nie auf die schonungslose Darstellung einer harten Realität, erschafft vielmehr unermüdlich filmische Gedanken und hochgradig konstruierte Sequenzen mit doppelten und dreifachen Böden.
Übergänge

Mit The Long Day Closes (1992) dann, der weniger durchzogen ist von kindlichen Traumata, vielmehr an eine kurze Phase des Glücks zwischen dem Tod des tyrannischen Vaters und den Teenager-Jahren erinnert, schließt Davies diesen Teil seines Werks ab. Zu Beginn sieht der junge Bud einmal aus dem Fenster, auf einen Maurer, der oben ohne mit seinen Steinen hantiert und ihm schließlich zuzwinkert. Bud zieht sich zurück. Weg vom Fenster. Auch die Protagonistinnen von Davies’ späteren Literaturverfilmungen sind Menschen, die mit den Angeboten der Welt nicht umgehen können, die das Leben begehren, aber nicht zurückzwinkern. Seine vielleicht notwendig gewordene Abkehr vom genuin Autobiografischen führt Davies dann in die USA, wo er John Kennedy Tooles Roman The Neon Bible (1995) über eine Baptisten-Gemeinde in den 1930er und 1940er Jahren verfilmt. US-Evangelikalismus statt irischem Katholizismus, aber auch dort findet Davies sich wieder, wie man oft so harmlos sagt, obwohl es furchtbar sein kann.

Durch Haus Bellomont (House of Mirth, 2000), nach dem Roman von Edith Warton, wird Davies dann auch erstmals einem breiteren Publikum bekannt, doch der Film über eine Außenseiterin in der New Yorker High Society um die Jahrhundertwende ist alles andere als ein Startschuss. Mehrere Anschlussprojekte scheitern, darunter auch der – mittlerweile allerdings realisierte – Sunset Song. 2008 trägt Davies mit dem eigenwilligen dokumentarischen Essay Of Time and the City zu einer Initiative der Liverpooler Kulturkommission bei. 2012 schließlich kommt The Deep Blue Sea in die Kinos, die Verfilmung eines Theaterstücks von Terence Rattigan, in der Rachel Weisz rauchend am Fenster steht und nicht mehr leben will. Wie Haus Bellomont seziert dieser Film ein weibliches Scheitern an gesellschaftlichen Konventionen, wenn es nun auch die Doppelmoral des Privaten in den 1950er Jahren ist, nicht mehr die quasi-aristokratische Etikette des gerade erst angebrochenen 20. Jahrhunderts.
Sich wiederfinden

Sind die Heldinnen dieser beiden Filme klassische Außenseiterinnen, die mit sozialen Erwartungen zu kämpfen haben, so verhält es sich bei Davies beiden aktuellen Filmen noch etwas anders. In A Quiet Passion, der in diesem Jahr auf der Berlinale unverständlicherweise nur in der Special-Sektion gezeigt wurde, spendiert er einer seiner großen Musen ein Biopic: der Dichterin Emily Dickinson, die ihren eigenen Ruhm nicht mehr erlebt hat, die ebenfalls – zumindest in der Davies’schen Lesart – an einem inneren Lebensdrang zerbrach, dem sie nicht nachgeben konnte. Und auch die Protagonistin von Sunset Song ist eine geistreiche junge Frau, die liest und schreibt, die Lehrerin werden will, die sich schließlich aber ganz dem geerbten Stück Land widmen muss, auf dem sie aufgewachsen ist. Durchzogen sind auch diese Filme von jener harten Melancholie, die bereits Davies’ Frühwerk durchzieht. Er hat sich in den von ihm adaptierten Stoffen wiedergefunden, so könnte man wohl auch hier sagen, und diese Filme sprechen nicht zuletzt von der schmerzhaften Erfahrung dieses traumatischen Funds.
Die Terence-Davies-sensibility

Davies’ Kino ist ein psychisches, aber kein psychologisches. Sein Motor sitzt tief im Inneren, aber Innerlichkeit drückt sich niemals durch jene Mittel aus, mit denen das Kino dem Inneren oft beizukommen meint. Sie drückt sich aus in filmischen Bewegungen, in präzise konstruierten Tableaus und den so leisen wie ausdrucksstarken Übergängen zwischen ihnen, in denen die Kamera durch die Zeit und durch die Zeiten zu gleiten scheint. Davies’ teilweise radikale ästhetische Entscheidungen scheinen dabei niemals einem narzisstischen Kunstwillen unterworfen. Es gibt da weniger einen bestimmten souveränen Stil als eine bestimmte sensibility, die dem filmischen Material keinen Stempel aufdrückt, sondern ihm zum Ausdruck verhilft. Vielleicht ist das Kino des Terence Davies genau dieses Fenster, vor dem seine Figuren stehen, das weder als Blick auf die Welt funktioniert noch als Blick auf die Figuren, sondern als transparente Scheibe, die sich dazwischenschiebt. Und in der sich nicht nur ein Gesicht und eine Welt spiegeln, sondern zugleich all die verschwommenen Erinnerungen, die beides in jedem Augenblick umhüllen.
Zu den Filmen:
The Terence Davies Trilogy (1983)
Distant Voices, Still Lives (1988)
The Long Day Closes (1992)
The Neon Bible (1995)
The House of Mirth (2000)
Of Time and the City (2008)
The Deep Blue Sea (2011)
A Quiet Passion (2016)
Sunset Song (2016)
Kommentare zu „Das Kino ist eine Scheibe. Zum Werk von Terence Davies“
Tom Pisa
Danke für den schönen Text.
Ich habe neulich noch "Benediction" von ihm gesehen, ganz und gar aus der Zeit gefallen und einfach großes Kino. Vielleicht besprecht ihr den einmal hier zum Anlass ? Es war sein letzter großer Film (2021) und hat es mehr als verdient, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Michael
Danke für das Lob! Eine Besprechung von "Benediction" wird sicher noch irgendwann folgen. Zumindest im Rahmen eines Festivals haben wir ihn schon mal besprochen: https://www.critic.de/special/unterschwellig-glimmernd-rotterdam-film-festival-2022-4508/