Paternal Leave - Drei Tage Meer – Kritik
Regisseurin Alissa Jung schickt in ihrem Spielfilmdebüt die 15-jährige Leo nach Italien, um dort ihren biologischen Vater zur Rede zu stellen. Klischeebefreit und präzise geht es in Paternal Leave – Drei Tage Meer nicht um die Rückkehr des verlorenen Vaters, sondern um die Konsequenzen einer jahrelangen Abwesenheit.

Flamingos sind sehr gute Väter. Sie teilen sich die Arbeit mit der Mutter in allen Belangen fair auf, erzählt die 15-jährige Leo (Juli Grabenhenrich) dem Sportkneipenbesitzer und Surflehrer Paolo (Luca Marinelli). Sie: ein Pullover über ihrem Hoodie und blondes Haar mit blaugefärbten Spitzen; er: schwarzes, zerzaustes Haar, dunkle, unaufdringliche Ohrringe und große graue Augen. Leo hat die gemeinsame Wohnung mit ihrer überarbeiteten Mutter in Deutschland verlassen, um sich Paolo, ihrem biologischen Vater, in der italienischen Küstenstadt Marina Romea zu stellen. Sie ist ohne ihn aufgewachsen und kennt ihn nur von einem YouTube-Interview über seinen Surfunterricht, in dem er von dem familiären Verhältnis erzählt, das er zu all seinen Schüler:innen aufbaut. Im Hintergrund erkennt man fliegende rosa Vögel.
Zwischen Vater und Schwimmring

Der Flamingo zieht sich motivisch durch Paternal Leave – Drei Tage Meer, dem intelligenten Spielfilmdebüt der deutschen Schauspielerin und Drehbuchautorin Alissa Jung. So kauft Leo in einem kleinen Supermarkt einen aufblasbaren Flamingo-Schwimmring, nachdem sie hört, wie Paolos andere, jüngere Tochter Emilia (Joy Falletti Cardillo) fragt, ob sie diesen Schwimmring haben kann. Beflügelt vom Gefühl einer Schuld, die Paolo aufgrund seiner Abwesenheit bei ihr begleichen muss, bezahlt Leo mit der Kreditkarte, die sie von ihm gestohlen hat. Der Flamingo wird ihr fein in die Handlung eingewobener, symbolischer Begleiter durch ihre zwischen Stille und Sympathie wechselnden Annäherungsversuche in Richtung Paolo. Mal weist der Flamingo über sich hinaus auf die Hoffnung einer doch möglichen Beziehung zu Paolo, mal wirkt er für Leo wie der leblose Ersatz eines genauso nutzlosen Vaters.
So bleiben denn auch die Gespräche zwischen den beiden zunächst distanziert. Leo hat sich stur Interview-Fragen in ihr Notizbuch notiert, um möglichst schnell einige Fakten über ihren Vater sammeln und dann wieder abreisen zu können. Paolo ist zwar offen und entgegenkommend, aber schnell gereizt von der Selbstverständlichkeit, mit der Leo einen vorübergehenden Platz in seinem Leben beansprucht – versucht er doch gerade, das Verhältnis zu seiner anderen Familie zu bessern. Diese Dynamik äußert sich im einfühlsamen Spiel der Schauspielenden: Grabenhenrich spielt Leo mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit, während Marinelli seinem Paolo eine Nahbarkeit verleiht, die vor allem dazu dient, seine emotionale Überforderung mit der Situation zu überdecken.

Jungs Drehbuch gibt den beiden Hauptfiguren auch zärtliche, verbindende Momente, etwa wenn Paolo bemerkt, dass Leo seine charakteristische Gangart besitzt, oder wenn er herausfindet, dass auch sie beim Verzehr von Schokolade niesen muss. Aber Paternal Leave ist nicht darauf aus, seine Konfliktsituationen in Momenten unverdienten Wohlgefühls aufzulösen, sondern nutzt sie als Steigerung einer leisen, aufkommenden Tragik; trotz ihrer Gemeinsamkeiten finden Leo und Paolo keinen wirklichen Zugang zueinander. Paolo behandelt Leo in der Öffentlichkeit wie eine Fremde und gedenkt, sie so weit wie möglich von seiner anderen Familie fernzuhalten. Dem trocken-direkten Titel entsprechend, geht es dem Film nicht um die Erzählung einer Rückkehr, sondern um das konfrontative Verarbeiten einer einschneidenden Abwesenheit.
Landschaften der Abwesenheit

Die Stimmung von Paternal Leave umgeht denn auch einen möglichen Toskana-Kitsch, der sich für das Erzählen dieser Geschichte angeboten hätte. Leo blinzelt nicht nachdenklich unter Zypressen sitzend in die italienische Sonne. Stattdessen gilt Jungs Interesse einem herbstlichen, von Carolina Steinbrechers Kamera in kalte Farben getauchten Italien: Ein meistens bewölkter Himmel, von Windböen durchgeschütteltes Haar und menschenleere Strände verleihen dem Film ein Gefühl von Isolation, das die Geschichte einer von ihrem eigentlichen Leben entfernten, in ein ihr unbekanntes Gebiet reisenden Jugendlichen visuell ergänzt. Es sind Landschaften, die von Abwesenheit gekennzeichnet sind und dadurch weltfern wirken. Wenn Paolo gerade seine Bar renoviert oder Zeit mit seiner anderen Tochter verbringt, läuft Leo verloren und allein durch diese fremde Umgebung. Jung und Steinbrecher fangen das in unaufdringlich starken Bildern ein, die Leo in nebelverhangenen, verlassenen Spielplätzen oder in dichten Waldstücken zeigen. Durch die dabei oft genutzten, distanzierten Totalen wird Leo als kleiner Teil der Umwelt fast von ihr verschluckt.

In einer Szene sitzt sie mit dem jungen Lieferanten Edo (Arturo Gabbriellini), zu dem sie eine herzliche und glaubwürdige Freundschaft entwickelt, im Bagger seines Vaters. Zurückgelassen liegt der Bagger am Strand, seine Klaue auf ewig im Sand vergraben. Da der Supermarkt genug für den Lebensunterhalt liefert, ist Edos Vater meist zu Hause und verbringt seine Zeit damit, Edo für sein „schwules Auftreten“ anzuschreien. Zum Treffen mit Leo erscheint Edo mit einem blauen Auge. Leo empfehlt ihm, beim nächsten Mal zurückzuschlagen; Edo ist sich unsicher. Er glaubt an eine grundlegende, fast schon naive Familienliebe, die alles aushält und verzeiht. Leo glaubt daran, dass eine Familie aus Menschen besteht, die sich bewusst dafür entscheiden, im Leben der anderen präsent zu sein. In diesem Gespräch gibt der Film beiden Perspektiven Raum, doch die restliche Zeit priorisiert er Leos Überlegungen darüber, eigenständig die Menschen wählen zu können, mit denen man sich umgibt. Paternal Leave weiß nämlich, wie auch Leo im Laufe des Filmes erfährt, dass abwesende Väter manchmal besser sind als anwesende.
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