Turtle Vision – Kritik
Katharsis auf Magnetband: In Turtle Vision folgt ein Voyeur mit Kamera einer Schlafwandlerin mit Skalpell. Die Folgen ihres Aufeinandertreffens formt Hisayasu Satō zu einem verstörenden Misswuchs aus Technologie und Trauma.

Ein schwaches Blau liegt über den Bildern der Großstadt. Wie vom Licht eines alten Monitors eingehüllt, schimmert sie. Dunkle Linien von Hochhäusern melieren das Bild, Fußgängerbrücken imitieren das Korn eines verwaschenen Videobands. Es ist das gleiche Blau, mit der eine Nachtsicht-Kamera das Bild überzieht, um den Rest des nächtlichen Scheins zu verstärken.

Der Protagonist trägt eine solche Kamera. Im Schutz der blauen Nacht filmt er junge Paare beim Sex. Seine Filme haben das gewisse Etwas. Sie sind nicht die verwackelte Abbildung von öffentlichem Sex. Sie haben eine Perspektive. Die Kamera ist das dritte Auge des Voyeurs. Eines Nachts fällt der Blick des professionellen Spanners auf eine junge Frau, die als schlafwandelnde Prostituierte durch die Stadt zieht. Während sich ein fremder Mann an ihrem Körper vergeht, zückt sie ein Skalpell und durchbohrt damit sein Auge. Eine Szene, in der Turtle Vision, besonders im Vergleich mit Satos eher berüchtigten Filmen, zunächst fast harmlos wirkt: kein Blut, kein Close-up des Augapfels, nur ein sich windender Mann und der gierige Blick der Kamera, die alles aufzeichnet.
Das schneidende Auge

So ist die eigentliche Waffe im Film nicht das Skalpell und das Ausstechen eines Auges nicht der entscheidende Gewaltakt. Die Angriffe auf die Augen der Peiniger werden von Sato nicht als blutige Highlights gesetzt. Es ist nicht die Gewalt, es ist die Aufzeichnung der Gewalt, die in Turtle Vision verstört. Wer die Kamera hält, ist hier kein einfacher Voyeur. Sein Blick durch den Sucher setzt den eigentlichen Schnitt. Wo Buñuel zeigt, wie die Rasierklinge ein Auge zerschneidet, zeigt Sato den Kameramann, der zusieht.

So sehr Voyeurismus und sexuelle Gewalt als ständig gefilmte Motive wiederkehren, so wenig lässt Sato eindeutige Interpretationen zu. Turtle Vision ist kein klassisch medienkritisches Kino. Konkret formulierte Gesellschaftsbezüge interessieren Sato genau so wenig wie ein lückenlos auserzählter Plot. Es ist die Ästhetik der Wechselwirkung zwischen Blicken, sexueller Gewalt und deren Aufzeichnung, die den Film trägt. Als zentrale Szene, die gleichzeitig als Rahmen der Handlung dient, kehrt mehrfach eine Aufnahme von drei maskierten Männern wieder, die eine Schülerin vergewaltigen. Die Kamera zoomt zunächst auf das Gesicht des Opfers, um dann im Gegenschuss selbst sichtbar zu werden. Das Kameraobjektiv spiegelt das Leid des Opfers. Das Medium selbst wird ein Teil der Gräuel.
Katharsis auf Video

Dabei begnügt sich Sato nicht mit einer Rückbindung der Technologie an die Realität. Er überführt seinen Video-Horror in die Welt des Fantastischen. So lässt sich Turtle Vision als geistiges Schwesterstück zu David Cronenbergs Videodrome (1983) lesen, als Misswuchs aus Mensch und Technologie. Doch im Gegensatz zum Kanadier vereint Sato nicht das Fleisch mit der Technologie. Es ist der Geist, das menschliche Bewusstsein, das mit dem Medium verwächst.

Auf die Spitze getrieben wird diese Metapher, als das Opfer im Laufe des Films einer sogenannten Videotherapie unterzogen wird. Mithilfe einer Video-Projektion soll ihr Unterbewusstsein von den schlechten Erinnerungen befreit werden, die sich dort festgesetzt haben wie das Bildrauschen auf einem Tape. Eine Leinwand voll tanzender Bildartefakte konfrontiert sie mit den Traumata ihrer Vergangenheit. Abwechselnd in rotes und grünes Licht gehüllt, wird sie vor dem Bildschirm auf einem Stuhl rotiert, während das Bildrauschen ihr Trauma aus dem Unterbewusstsein zieht. Die erbarmungslose Kälte, mit der die Magnetband-Katharsis durchgeführt wird, wirkt allzu vertraut in Satos Filmen. Doch Turtle Vision nimmt eine Sonderstellung im Œuvre des Pinku-Regisseurs ein, weil er dem sexuellen Trauma eben keinen unmittelbar körperlichen Ausdruck gibt. Das Leid kann aufgezeichnet und in der Therapie wieder abgespult werden, Erlösung gibt es keine. So ist das verstörendste Bild des Films auch keine Vergewaltigung; kein Skalpell, das in einem Auge steckt; keine körperliche Folter. Es ist eine harmlose Aufnahme des Mädchens, im blauen Dunst der Kamera des Voyeurs. Ein letztes Mal starrt sie in das Objektiv, bevor sie ausholt und direkt in das Bild sticht. Danach bleibt nur weißes Rauschen.
Zu den anderen Texten unserer Hisayasu-Satō-Reihe geht es hier:
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Sex ohne Erlösung – Der Schauspieler Kôichi Imaizumi
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