The Wild Party – Kritik
In Dorothy Arzners The Wild Party vermittelt der hübsche Professor nicht nur Wissen über „man’s place in nature“, sondern wird auch zum Objekt der Begierde. Und Stummfilmstar Clara Bow ist völlig außer Rand und Band.

Universitäten sind Freiräume, und zwar in mindestens zweierlei Hinsicht: Zum einen, weil sie diejenigen, die sie besuchen, mit neuen Ordnungen (und Unordnungen) von Wissen konfrontieren, und zwar idealerweise ohne dieses Wissen immer schon pragmatisch auf seine Anwendung oder andere Verwertungszusammenhänge hin zu perspektivieren. Zum anderen, weil der Universitätsbesuch für die meisten Studentinnen und Studenten auch einen biografischen Einschnitt darstellt: das erste Mal von zuhause weg, ein selbstorganisiertes Leben jenseits der elterlichen Kontrolle, umgeben von vielen anderen jungen Menschen, ein erleichterter Zugang zu Rauschmitteln, die Aussicht auf neue, mehr, andere erotische Erfahrungen. Kurz: The Wild Party.
Frauenbeine als Tentakel

Dorothy Arzners gleichnamiger Film aus dem Jahr 1929 erkundet beide Aspekte der universitären Freiheit, wobei der Schwerpunkt schon auf letzterem liegt – vielleicht, weil er fotogener ist. Aber es gibt eine schöne Szene, die beides zusammenbringt und zugleich die außergewöhnliche Geschlechterpolitik des Films verdeutlicht: Der Anthropologie-Professor James Gilmore (Fredric March) betritt einen Hörsaal, in dem Studentinnen seine Vorlesung erwarten. Gefilmt ist das so, dass man ihn in der Bildmitte den Saal betreten und sich an seinem Tisch niedersetzen sieht, während links zunächst nur eine Reihe von übereinandergeschlagenen, lebhaft auf und ab wippenden Frauenbeinen zu sehen sind – fast wie Tentakeln, die ins Bild hineinragen, nach Beute Ausschau haltend. Wenn James dann, bereits leicht nervös, ins Auditorium blickt, folgt ein Point-of-View-Schwenk über Dutzende junge Frauen, die ihn erwartungsvoll und herausfordernd ankichern. Dass sie hier, an einer reinen Frauenuni, in der Überzahl sind und plötzlich der hübsche Professor eher Objekt ihres Blicks ist als umgekehrt, ist für die Studentinnen mindestens ebenso wichtig wie die Aussicht auf neue Erkenntnisse über (so lautet später ein Aufsatzthema) „man’s place in nature“.
Zwischen Schlafsaal und Hörsaal

Eine der Studentinnen, Stella Ames (Clara Bow), hat den Professor schon vor Unterrichtsbeginn kennengelernt – eine frühe Rückblende zeigt, wie sie ihm in einem jener Schlafwagenabteile begegnet war, die in älteren Filmen häufiger Ausgangspunkt beziehungsweise Medium von erotisch aufgeladenem Unfug sind: Nur ein dünner Vorhang trennt die Reisenden nachts voneinander, und es findet sich noch stets ein Vorwand, der dafür sorgt, dass ein verwirrter junger Mann mit einer leichtbekleideten, ob dieser Situation vielleicht gar nicht einmal allzu hysterischen jungen Frau im selben Abschnitt landet. Im Schlafsaal der Uni dagegen sind die Studentinnen unter sich. Viel Zeit verbringt The Wild Party hier, und manchmal hat man den Eindruck, dass er sich am liebsten mit gar nichts anderem beschäftigen würde als mit dem Soziotop des Dorm-Room. Hier werden Freundschaften geschlossen und kleine Sticheleien ausgehandelt, den Kommilitoninnen die neue Garderobe vorgeführt, durchs Fenster nach Männern Ausschau gehalten. An der Wand hängt zunächst noch eine altmodische Schmucktafel: „Home Sweet Home“. Die wird aber rasch umgedreht, auf der Rückseite ist zu lesen: „The H.B.M.“ Das steht, klärt Stella die anderen auf, für „hard-boiled maiden“.

Stella ist die hartgekochteste von allen. Ihr eh schon wildes, voluminöses Haar zerrupft sie sich gleich nochmal, wenn sie an den arroganten Gilmore denkt, in den sie sich natürlich trotzdem verliebt hat. Auch ansonsten ist sie außer Rand und Band, mimisch genauso wie gestisch, ihren Körper durchzucken fast in jeder einzelnen Einstellung eine ganze Reihe von oft einander widerstrebenden Impulsen. Bow, einer der größten Stars der Stummfilmzeit, war am Set ihres ersten reinen Tonfilms so agitiert, dass Arzner, so will es zumindest die Legende, extra für sie das sogenannte Boom-Mike erfunden hat – ein Mikrofon, das von einem Assistenten mithilfe eines Aluminiumstabs über den Köpfen der Darsteller hin und her bewegt werden kann.
Hedonismus, Disziplin und darüber hinaus

Natürlich mag sich der Film dann doch nicht auf den Schlaf- und auch nicht auf den Hörsaal beschränken. Die wilden Partys des Titels wollen schließlich ebenfalls besucht werden. Deren schönste ist ein ebenfalls rein weiblicher Kostümball, der von Stella und drei Freundinnen aufgemischt wird. Erst schleichen sie sich in voluminösen Pelzmänteln ins Gebäude, die Tanzfläche wollen sie aber in denkbar knappen, identisch designten Kostümen erobern: schwarz glitzernde Einteiler, deren Frontseite drei weiße Blitze zieren. Schwer zu entscheiden, ob die Mäntel glamouröser sind oder das, was sie verbergen.

Im weiteren Verlauf der Handlung geht es dann schon ein wenig darum, Stella ihre Flausen auszutreiben. Auf ein plumpes morality play lässt sich The Wild Party aber keineswegs reduzieren. Und zwar nicht nur deshalb, weil es in dem Film, wie in fast allen seiner Art, eine letztlich nicht auflösbare Spannung gibt zwischen dem sinnlichen Reiz der ausführlich zelebrierten Exzesse und ihrer finalen ideologischen Verurteilung. Bei Arzner geht es darüber hinaus um eine Utopie der weiblichen Selbstbestimmung – ein Motiv, das sich in diversen Spielarten durch den gesamten Film zieht und den Widerspruch zwischen Hedonismus und Disziplin transzendiert. Schließlich kann sich feminine Autarkie in Cross-Dressing-Kostümpartys, bei denen Frauen mit Frauen tanzen, genauso prägnant artikulieren wie in einer rein weiblichen study group.
Am Anfang war die Gründerin

In einer Schlüsselszene stehen Stella und James auf einem Hügel etwas abseits der Universität und blicken auf diese herab. „Have you ever seen the college from here?“, fragt der Professor. Zu sehen ist eine atmosphärische Totale, die Universität dominiert, stolz und unbeugsam, die sie umgebende idyllische Landschaft. Wenn James Stella anschließend zurechtweist, mehr akademische Disziplin und einen weniger unsteten Lebenswandel anmahnt, dann spricht er nicht nur für sich selbst, beziehungsweise im Namen des Patriarchats, sondern auch für die Institution – und für deren Gründerin. Eine einzelne Frau hat, lernen wir, vor einigen Jahrzehnten die Universität gegründet, gegen den Widerstand ihrer Zeitgenossen. Und jetzt gilt es, dieses Erbe zu bewerben, in order „to bring a true freedom to women“.
Den Einführungstext zu unserer Dorothy-Arzner-Reihe sowie einen Überblick aller Texte gibt es hier
Craig's Wife (1936)
First Comes Courage (1943)
Nana (1934)
The Bride Wore Red (1937)
Christopher Strong (1933)
Merrily We Go to Hell (1932)
Dance, Girl, Dance (1940)
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