Latex – Kritik

Melancholie in Gummi: Der traurige Held in Latex kann die geheimsten sexuellen Wünsche der Menschen erkennen, aber nicht an ihnen teilnehmen. Ein Endzeit-Kunst-Porno, bei dem man manchmal zurückspulen muss, um alles zu verstehen.

Wie Paul Thomas Anderson gezeigt hat in Boogie Nights (1997), ging mit den 1970er Jahren eine Ära in der Geschichte des Pornofilms zu Ende, das sogenannte golden age mit langen Filmen von Gerard Damiano, Lasse Braun, Henry Paris, Robert McCallum oder den Mitchell Brothers. Damals in den 70ern versuchten internationale Filmemacher genauso wie die Pornografen aufwendige Kinofilme zu drehen, die Grenzen sprengten in der authentischen Darstellung von Sex und Gewalt. Friedkins Der Exorzist (1973), Bertoluccis Der letzte Tango in Paris (1972), Barbet Schroeders Maitresse (1976), Ōshimas Im Reich der Sinne (1976), Tinto Brass’ Caligula (1979) und Gerard Damianos The Devil in Miss Jones (1973) sind Beispiele für dieses Kino wider die Tabus.

Die 1980er Jahre brachten dann die Video-Explosion, welche die hochtrabenden Träume vom großen Porno oder vom großen Horrorfilm förmlich zersplitterte. In der anfänglichen Guerilla-Zeit von Video wurden bereits schnelle, billige und spezielle Filme für den privaten Gebrauch bevorzugt. Die allmählich direkt auf Video gedrehten Sexfilme bedeuteten zugleich eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Pornos: Viele sind auf 90 Minuten ausgewalzte stag-Filme, die man sich per Schnelllauftaste selbst zurechtstutzt. Ein großes Manko haben auf Video gedrehte Filme, nicht nur Pornos: Die beste Technik und die aufwendigste Beleuchtung erzeugen kaum Atmosphäre. Die Sinnlichkeit des Zelluloids bleibt unerreicht. Videobilder sind flach, wie eben die von Überwachungskameras.

Michael Ninn, ein von der Werbung kommender Regisseur, der in Nachfolge der grandios-grotesken Dark Brothers schnell zum Aushängeschild des Porno-Chic der 1990er Jahre wird, spielt jetzt gekonnt mit dem Medium Video, mit der Kälte der Bilder, mit dem Überwachungscharakter. Video selbst mit Computertechnik und Morphing-Effekten wird zum Fetisch, wobei die Figuren beinahe wie animiert wirken. Der Durchbruch gelingt Ninn mit Latex (1995), einem Videofilm von VCA, geschrieben von Antonio Pasolini. Latex, wie auch die anderen Ninn-Filme (Sex, Sex 2, Shock), erzählt eine recht mysteriöse Geschichte. Der Film spielt in einem düsteren L.A. der Zukunft. Ein diabolisch wirkender Mann namens Malcolm Stevens (John Dough) kann die geheimsten sexuellen Wünsche der Menschen erkennen, wenn er sie berührt. Die Begierden der anderen, sie laufen vor ihm und uns Zuschauern ab wie ein Film. An den Sex-Eskapaden kann er wie wir selbst nicht teilnehmen. Er bleibt leidend in Video-Monitoren oder einer Latex-Haut eingeschlossen. Das zentrale, immer wiederkehrende Bild in Latex ist das eines Paares, das Sex hat vor einem Monitor, aus dem unser Held blickt. In besonderen Fällen kann Stevens einen Vertreter in die Sex-Action schicken. Dann sieht er sich selbst beim Sex zu und wandelt am Rande zur Schizophrenie.

Stevens sieht und erlebt natürlich meist Fantasien von Frauen, die wiederum seine eigenen Fantasien sind. Die Frauen tragen meist einen Hauch von Latex, wie Fetzen von seiner zweiten Haut. In einer Rückblende sieht man Stevens’ schmerzliche Trennung von seiner Ehefrau. Er glaubt, ihre geheimen Wünsche zu kennen, während sie beteuert, ihn zu lieben. Es gibt keinen Ausweg.

Wenn Michael Ninn auch immer wieder Fritz Lang zitiert, so ist Latex doch vor allem von Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) beeinflusst. Stevens, der traurige Sex-Rebell, der in einem Überwachungsstaat die letzten Geheimnisse erblickt, landet bald in einer merkwürdigen Nervenanstalt. Die Nervenärzte, die ihn über Monitor betrachten, werden von Hardcore-Veteranen gespielt, nämlich von Kelly Nichols, Mike Horner und Veronica Hart. Veronica Hart, die unter ihrem richtigen Namen Jane Hamilton Latex auch produziert hat, spielt übrigens in Boogie Nights eine kleine Rolle als Richterin. Stevens wird schließlich von einer Psychiaterin befragt, die von Tiffany Million gespielt wird, einer der schönsten und künstlichsten Frauen im US-Hardcore der 1990er Jahre. Die Befragung erinnert an Passagen aus Killer-Filmen wie Das Schweigen der Lämmer (1991), The Ugly (1997) oder Never Talk to Strangers (1995). Hier wie dort erscheint der Mann als unbekanntes Wesen zwischen rebellierender Leidenschaft und Bestialiät. In Latex löst sich die Szene in einer alten Porno-Metamorphose auf. Die strenge Psychiaterin mit Brille verwandelt sich in ein lustvolles Weib, das zwei Assistenten vernascht. Die Sex-Szenen bei Ninn, zwischen Schwarz-Weiß und Farbe schwankend, besitzen kühle Workshop-Atmosphäre. Vor einem einfarbig ausgeleuchteten Hintergrund erscheint die Aktion beinahe abstrakt. Latex ist ein einziger Grafiker-Traum. Der Sex ist dabei nie befreiend, sondern wirkt eher anstrengend und quälend. Fellatio und vor allem Analsex dominieren die Hardcore-Passagen, die vom Zusammenhang zwischen Lust, Schuld und Sühne handeln. Stevens gerät in eine TV-Show, in der er die privaten Fantasien einer Moderatorin erlebt. Am Ende wird ihm der Prozess gemacht. Vor einem riesigen Publikum muss er, ganz in Latex gehüllt, zusehen, wie eine Frau, die seine Frau sein könnte, Sex mit zwei Kerlen hat. Doch dann wird er befreit von einem Fetisch-Girl namens Kato, verkörpert von Sunset Thomas. Dieser Schutzengel in schwarzem Gummi bringt ihn zu einem gewaltigen Orgasmus. Der face shot wird zum ultimativen Special Effect. Unendliche Mengen Flüssigkeit spritzen aus dem (künstlichen) Penis von Stevens auf Kato nieder. Der Gummimann als Geysir: Er droht sich vollkommen zu verausgaben. Wie in den Climax-Szenen von Sensations (1976) und Behind the Green Door (1972) gleicht auch bei Ninn die Erlösung einer Auflösung.
Auslöschung. Das Körperliche probiert den Sprung ins Spirituelle, der auch ein Schritt ins Nichts sein kann.

Latex ist ein Endzeit-Kunst-Porno, bei dem man auch manchmal zurückspulen muss, um ihn besser zu verstehen (ist Kato vielleicht Stevens Mutter?). Was der sexuellen Erregung des Zuschauers natürlich abträglich ist. Der Film funktioniert also nicht als solider Porno, sondern als cooles Stimmungsbild über die Tristesse der Begierden.

Der Text ist ursprünglich in der Ausgabe 16 der Kinozeitschrift 24 (Frühling/Sommer 1998) erschienen, von der man hier ältere Ausgaben für jeweils 4 Euro erwerben kann.

 

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