Gleichung mit einem Unbekannten – Kritik
Salzgeber Club: In einem Paris aus Nicht-Orten treffen sich Männer zum Sex – oder träumen davon. Die Darsteller des lange verschollenen Pornos Gleichung mit einem Unbekannten wirken wie hypnotisiert, als Zuschauer fühlt man sich wie in einem Loop gefangen.

Ein nackter Fußballer sitzt rittlings auf dem Gesicht eines anderen, während er ihm einen bläst. Eine Sitzbank führt wie ein Laufsteg zwischen zwei Spindreihen auf sie zu. Sie befinden sich am Ende des Ganges in der Bildmitte. Die Wände hinter ihnen sind knallrot. In einem quadratischen Fenster sehen wir einen Voyeur, der wie ein Gemälde über ihnen hängt. In der totalen Symmetrie erscheint die Umkleidekabine wie ein surrealer Altar oder der Zugang in ein Wunderland. In den folgenden Minuten sehen wir, wie der Voyeur selbst in flüchtige sexuelle Handlungen mit einem weiteren Zuschauer verwickelt wird, wie er anschließend nach Hause geht, wie der Film von dort zurück in die Kabine springt. Die Ausgangslage ist wieder hergestellt, und eine Variation beginnt, in der die beiden Beobachter nun selbst diesen Raum betreten und Teil des Ganzen werden.
Keine Geschichte, eine Verfassung

Die Raison d’Être eines Pornos ist es, Sex zu zeigen. Der Weg zwischen Sexszene A und Sexszene B ist dabei selten von Belang, falls es überhaupt eine Handlung gibt. Wie viele andere Filme aus dem Golden Age of Porn nutzt Gleichung mit einem Unbekannten jedoch gerade diese Lücken als Freiraum für seine eigenen Visionen.

Dabei entfaltet der Film aber kein schlüssiges Drama, das in gerader Linie auf das nächste Ziel zusteuert. Zuvorderst begleiten wir einen Mann, der in Paris unterwegs ist. Ohne trennende Marker springen die Ereignisse zwischen Realität und Fantasien der Hauptfigur hin und her. Immer wieder hängen wir in Loops. Bereits Geschehenes wird noch einmal aufgegriffen und variiert. Erinnerungen wie ein überstürzt am Straßenrand zurückgelassener Liebhaber springen impressionistisch zwischen die Bilder der Gegenwart und erzählen von Bedauern oder Begehren. Am Ende des Films wird der auf dem Bett liegende Protagonist von allen Liebhabern umringt, denen er während seines Treibenlassens und in seinen Tragträumen begegnete. Gerne würde er nur seinen Freund lieben, wie er diesem versichert. Doch die sich überlagernden, einander umkreisenden Sexszenen setzen ein Begehren ins Bild, das omnipräsent ist und ihn ständig begleitet. Statt eine Geschichte zu erzählen, führt uns der Film poetisch eine Verfassung vor Augen.
Manchmal zwitschern Vögel

Geredet wird dabei selten. Gleichung mit einem Unbekannten wirkt oft wie ein Stummfilm, in den sich ein paar verbale Äußerungen verirrt haben. Manchmal schwingt Stöhnen in das wunderbare Sounddesign. Manchmal sind es melancholische Klavierstücke, manchmal von Synthesizern verfremdete, wie dem Soundtrack von A Clockwork Orange (1971) entliehen. Manchmal zwitschern Vögel. Und in der finalen Gruppensexszene ist das Rauschen eines kleinen Wasserfalls in einem Bach oder einer Bootsfahrt zu hören sowie das repetitive Lachen einer Frau. Doch all das scheint aufgetragen auf eine allgegenwärtige Stille. Die Erwartungen an Ekstase werden so völlig unterwandert. Die vorherrschende Atmosphäre ist sanft und melancholisch.

Die Selbstvergessenheit der Männer beim Sex ist folglich auch nicht rauschhaft. Wie hypnotisiert tun sie eben, was sie tun. Wenn es Genuss gibt, dann ist er still wie der Film selbst. Dem scheint es auch nicht um eine Reflexion seiner Lüste zu gehen, sondern um eine Subtraktion. Sex ohne alles (Unnötige), was sonst daran angehängt wird. Ruhe und Verfremdungen, ein Paris, das größtenteils aus Nichtorten (Baustellen, Kabinen usw.) besteht. Hinzu kommt, dass sich die sexuell aktiven Männer mit ihren mittellangen, lockigen Frisuren seltsamerweise alle gleichen. Ältere, anders geartete Männer dürfen nur gucken und verschwinden sprunghaft aus dem Film. Wie in einer Echokammer steckt der Sex fest.
Tagtraum in einer grauen Welt

Männer treffen sich und ficken – oder träumen davon. Die porträtierte Promiskuität wird weder moralisch verdammt noch utopisch aufgeladen. Beziehungskämpfe bleiben ebenso aus wie romantische Verwicklungen. Alles bleibt in der Flüchtigkeit des Moments. Und alle inszenatorischen Entscheidungen tragen dazu bei, dass der Film von einer Überdeterminierung weit entfernt bleibt. Am markantesten ist noch das sanfte Lächeln, mit dem die Hauptfigur ihre Träume beantwortet, und das breite Grinsen zweier Radfahrer, die zusammen durchs sonnige Paris fahren. Die Realität ist zwar fragmentiert, aber luftig und anschmiegsam. Gleichung mit einem Unbekannten ist ein Tagtraum in einer grauen Welt, der eben mal ganz ohne Drama auskommt.
Den Film kann man sich für 4,90 Euro im Salzgeber Club ansehen.
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