Die traurigen Mädchen aus den Bergen – Kritik
Wer fickt hier wen? Die traurigen Mädchen aus den Bergen ist eine Mockumentary, die der Frage nachgeht, ab wann Porno selbstermächtigend ist.

Selmas größte Fantasie: Zusehen können, wie eine Person einen Film schaut, in dem Selma mitspielt, und sich dabei selbst befriedigt. Nun ist Hendrik da, der im Fantasieszenario von Selma aber eigentlich ziemlich austauschbar ist. Sie stellt also das Tablet, auf dem sie den Porno streamt, zwischen ihren Beinen ab. Während Hendrik fasziniert auf den Screen starrt und sich anfasst, wird er von Selma beobachtet. Irgendwann wandert ihre Hand zu ihrem eigenen Körper hinter dem Tablet. Beide masturbieren. Dann kommt Hendrik näher, sieht Selma ins Gesicht und spritzt ab. Das Sperma läuft über den Screen zwischen den Beinen. Das Internet ist hier in Form des iPads Lustmaschine wie Verhütungsmethode.
Melancholie als Performance feiern

Die Frage danach, was anturnt und was nicht, ist in Die traurigen Mädchen aus den Bergen der Berliner Film- und Pornomachenden Candy Flip und Theo Meow, die unter dem Label „Meow Meow“ arbeiten, inhaltlich wie bildästhetisch grundlegend. Was schon mal prinzipiell nicht so anmacht, ist das Patriarchat, und daran koppelt sich eine Aufgabe des Filmes an sich selbst. Nämlich Sehgewohnheiten herauszufordern, einen männlichen Blick, wenn er sich denn schon nicht einfach überwinden lässt, offenzulegen und zu unterlaufen. Dazu nutzen Flip und Meow Strategien der Mockumentary und lassen Die traurigen Mädchen aus den Bergen als schmissige Reportage jenes Hendrik daherkommen, ein Journalist, der locker auch Fabian, Florian oder Felix heißen könnte und der laut eigener Aussage gerne Feministinnen datet, weil die doch „so einen eigenen Kopf“ hätten.

Hendrik besucht die sad girls, deren genauer Aufenthaltsort unbekannt ist, in einer Hütte in den Bergen. Tess, Lara, Momo und Selma haben sich über Snapchat kennengelernt und sind gemeinsam vor dem Glücksversprechen der neoliberalen Gesellschaft geflohen. In der Hütte drehen die Frauen, die ebenda ihre Melancholie als Erkrankung und Performance feiern, eigene Videos, zumeist mit pornografischem Inhalt, die sie über eine eigene Website verkaufen. Mit dem Erlös daraus unterstützen sie wiederum die kurdischen Frauenmilizen der YPJ im Kampf gegen den IS. „Wir lassen das Patriarchat für uns arbeiten“, erklärt ein sad girl in einem Interview. „Mehr Gonzo geht nicht“, kommentiert Hendrik oft und blickt in die Kamera, in all seiner Notgeilheit auf die (Frauen-)Körper, die Klicks und die Story.
Das Reflexionspaket wird mitgeliefert

Die traurigen Mädchen aus den Bergen zitiert den Gestus von Vice-Dokumentationen zwischen Sex, Terrorismus, Pop und diskursiver Aufbereitung, zeigt ihre Ausstellungsmechanismen und Lust daran, etwas zum Absurdem/Skurrilem (bzw. für absurd/skurril genug) zu erklären. Verwackelte Kamerabilder stehen neben Interviews mit fiktiven Familienangehörigen und Expert*innen, die aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Causa der traurigen Mädchen schauen, sowie den im Vergleich zum restlichen Bildmaterial hochwertiger produzierten Aufnahmen der sad girls. Und gewissermaßen wird auch das Reflexionspaket zum Film gleich mitgeliefert. Alle Figuren scheinen die Handlungen der Protagonistinnen stets bewerten und einordnen zu können – allen voran natürlich auch die Frauen selbst, die die gesellschaftlichen Konventionen reflektieren, die sie depressiv gemacht haben. „Wie sollen wir denn eine Bank einschlagen, wenn wir morgens nicht mal aus dem Bett kommen?“, fragt Lara, als sie damit konfrontiert wird, ob sich das, was sie tut, tatsächlich politischer Aktivismus nennen ließe und sich einer Verwertungslogik entziehe.

Argumentation und Dramaturgie ähneln einer gängigen Twitter-Diskussion. All das ist natürlich nur konsequent, genauso wie die kontinuierliche Vermarktung des Filmes unter der Autorenschaft Hendriks statt des Meow-Meow-Kollektivs oder auch die aufregende Website mit Manifest und eigenen Clips der Protagonistinnen. Die traurigen Mädchen aus den Bergen lässt sich als permanente Abrufbarkeit und Integration von Medieninhalten (und Meinungen) beschreiben. Das funktioniert natürlich vor allem über Schlagworte, mit denen der Film kontinuierlich hantiert: Privilegien, Anforderungen, Depression, Kapitalismus, Widerstand. Porno ist da letztlich als feministische, aktivistische Praxis das logische, letzte Ping im Diskursbingo.
Sexarbeit meets Journalismus

Genau die pornografischen Bilder in Die traurigen Mädchen aus den Bergen sind aber die spannendsten, weil sie das zitierte Reportage-Medium immer wieder künstlerisch subvertieren und sich fragen lässt, für wen diese Bilder produziert sind. Ab wann ist Pornografie selbstermächtigend? Ab wann aber auch für wen verstörend? Flip und Meow finanzierten den Dreh des Films, in dem Sexarbeit verhandelt wird, durch Sexarbeit; durch den Verkauf eigener Videos online, durch die Beihilfe bei Produktionen größerer Pornofirmen, durch Escort-Services. Das ergibt natürlich eine Parallele zu den sad girls und wirft die Frage auf: Wer lässt hier wen für sich arbeiten, wer sieht auf wen? Oder, wie an einer Stelle des Filmes formuliert wird: „Wer fickt hier wen?“
„Wir haben aber für drei Tage bezahlt“, sagt Journalist Hendrik, als er und Kamerafrau Kathi nach zwei Tagen von den traurigen Mädchen aus dem Haus geworfen werden. Und in seinem Statement zeigt sich genau die Erwartungshaltung an eine wirtschaftliche Beziehung, die hier eingegangen wurde. In der Nähe von Sexarbeit und journalistischer Tätigkeit wird plötzlich unscharf, wer noch Objekt oder schon Subjekt ist, wer aktiv, wer passiv. „Du trägst deinen Schlüpfer auf links“, sagt Momo vorher einmal verträumt zu Hendrik, „jetzt trägt das ganze Universum deinen Schlüpfer, nur du nicht“. Die traurigen Mädchen aus den Bergen ist eine spaßige, entlarvende Angelegenheit, mit eigenem Blick auf Schlüpfer und Welten.
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