Locarno 2015: Sehtagebuch (2)
Zulawski und Iosselliani! Meisterwerk-Alarm in Locarno.
Es war abzusehen, dass nach dem erstaunlich starken Jahrgang 2014 – mit Lav Diaz, Pedro Costa, Matías Piñeiro, Eugène Greene, Martín Rejtman, Joel Potrykus und der Entdeckung von Damien Manivel – es dieses Jahr etwas ruhiger wird in Locarno. Auch weil die Retrospektive nicht ganz so ausufernd konzipiert ist, sondern dem kleineren Oeuvre von Sam Peckinpah gewidmet ist. Doch auch 2015 beweisen die Festivalmacher ihr hervorragendes Händchen für ein Autorenkino der großgeschriebenen Freiheit, der Verzauberung durch die Bereitschaft der Filmemacher, dem Kino ihre Neugierde zu schenken, sich vom eigenen Werk überraschen zu lassen. Regisseure, die sich nicht beweisen müssen, die nicht zeigen müssen, dass sie die Antworten haben, wie es allzu oft aus den Poren von so vielen, auch auf Festivals dominierenden, slicken Dramen trieft. Den eigensinnigen und aufgeschlossenen Weltenbauern überantworte ich mich sehr gerne: Denn ich weiß, sie werden meine Verletzlichkeit nicht ausnutzen.
Hysterisierung der Handlung

Andrzey Zulawski hat seinen letzten Kinofilm vor fünfzehn Jahren gemacht, mit Cosmos legt er nun eine dem ersten Anschein nach kleine, bescheidene Romanadaption vor. Der Film spielt in einem überschaubaren Setting – hauptsächlich in einem großen alten bürgerlichen Familienhaus mit Garten, in dem ein paar Zimmer an Gäste vermietet werden –, doch im Geiste des Boulevardtheaters nutzt er die Restriktionen von Beginn an für eine atemberaubende Hysterisierung der Handlung. Ein permanenter Bezug auf die Körperlichkeit der Protagonisten bildet den Fluchtpunkt für eine Doppelperspektive (mindestens), die der Film durch sein Arrangement der Figuren einnimmt, indem er aus der Warte der beiden jungen fremden Männer erzählt, die sich in das Haus einmieten: Witold und Fuchs.

Ihre facettenreichen Begehren (von Fuchs für Witold, von Witold für die Tochter des Hauses, von beiden für die Bedienstete, von allen für Antworten auf Fragen, die sich gar nicht stellen) bringen den Film in Wallung und die Erzählung in Gang, die über eine groteske Detektivgeschichte alle Anwohner des Hauses miteinander in Beziehung setzt. Sehr anregend verschränkt Zulawski dabei die in eher gelassene Bilder gegossenen körperlichen Versuchungen und Annäherungen mit den manifesten Spuren einer starken Sprachlichkeit. Und wie sie reden, allesamt! In Cosmos treffen durch Timbre, Artikulation und Satzkonstruktionen Welten aufeinander, die sich einerseits durchaus abstoßen, aber durch die Lust an der Verschmelzung umeinander kreisen wie gleichpolige Magneten. Da ist es klar, dass es nie vollkommen klicken kann, dass eine Restdistanz nicht wird überwunden werden können. Diesem Versuch der Überwindung von Barrieren durch die Mittel des Kinos zuzusehen, ist ein schwer beschreibliches Vergnügen, weil die Antwort – so es eine gibt – nur eine filmische sein kann und der Ausgang hier wie sonst nur selten ungewiss ist, nein, sein muss. Auch dort, wo Cosmos ein sprachliches Kino ist, sind es nicht Worte, sondern Laute, die sprechen.
Nebeneinander von Utopie und Dystopie

Wie der Pole Zulawski lebt und dreht der Georgier Otar Iosselliani in Frankreich. Sein neuer Film Chant d'hiver, der zu Zeiten der Französischen Revolution beginnt und dann über ein vom Krieg durchkreuztes Georgien in die Pariser Gegenwart führt, lässt sich nur sehr schwer überhaupt zu fassen bekommen. Er strahlt eine Zärtlichkeit aus, auch wenn sie völlig unangemessen ist: gegenüber den Henkern des Terror-Regimes in Frankreich, den Soldaten, die in Georgien Häuser plündern und sich gewaltsam über Frauen hermachen, einer Diebesbande mit Mädchen auf Rollerskates. Iosselliani hat eine fast durchgehende Choreographie in Szene gesetzt, die die Brüche erst zu einer intimen Kohärenz zusammenbinden. In einem Bild beobachten wir gemeinsam mit zwei Männern durch ein Fernglas die Menschen im Hof und durch die Fenster die Leute in den Wohnungen gegenüber. Es ist ein voyeuristisches Set-Up – die Beobachteten sollen nicht wissen, dass sie beobachtet werden –, doch das ist eine falsche Fährte, so etwas wie Privatsphäre gibt es nicht für die Protagonisten in Chant d'hiver. Dafür gibt es auch weder Scham noch Vernunft, denn nebeneinander leben in ihrer dichtesten Form Utopie und Dystopie.

Iosselliani hat einen Film „über“ Migranten gedreht; Kunst und Kultur erforschen die Möglichkeit einer Heimat für alle, gerade dann, wenn Recht und Ordnung sie zu verhindern versuchen. Heiß durchdringen sich die Liebesaufmerksamkeit eines Straßendiebes für eine Geige spielende jungen Frau mit den Tauschgeschäften zweier älteren Herren, die Waffen für antike Bücher veräußern. Bücher mehr als Bazookas lieben, Beethoven hassen, um das Mädchen zu kriegen, das ist eine Losung. Alles nebeneinander, alles stimmig. Iosselliani hat einen so fröhlichen wie nachdenklichen Film gemacht, der trotz ausgeklügelter Plansequenzen noch immer offen dafür ist, sich selbst ad absurdum zu führen, sich selbst misszuverstehen, um am Ende diesen vielen, so umwerfend charmanten Menschen ein bisschen Wahrheit über das Dasein in dieser Welt im 21. Jahrhundert abzuluchsen. Es hat nichts mit Geld zu tun, dafür fast alles mit Kultur.
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