Träume in den Knochen – Kurzkritiken vom DOK Leipzig 2021
15 Minuten, in denen Jahrhunderte vergehen. Ein postapokalyptischer Arbeiterfilm mit Space-Odyssey-Moment. Extended Reality, bei der man am Ende doch nur auf eine Leinwand starrt: Festivalnotizen von Studierenden der Uni Hildesheim.
Abandoned Village (GE 2020; R: Mariam Kapanadze)

Zunächst verhüllt dichter Nebel die gemalte Szenerie einer verfallenen Siedlung zwischen knorrigen Bäumen und struppigen Büschen. Langsam lichtet sich der Dunst, vereinzelte Sonnenflecken wandern über die horizontlose Pinsellandschaft und führen den Blick über menschliche Hinterlassenschaften. Windschiefe Hütten, Reste von Zäunen mit Gatter, ein alter, steinerner Brunnen lugen zwischen wucherndem Gras und Totholz hervor.
Derweil verdrängt Vogelgezwitscher die morgendliche Stille, das Leben erwacht, macht sich akustisch bemerkbar, das Bild verharrt dennoch bewegungslos. Lediglich die veränderte Lichtstimmung lässt auf ein Voranschreiten der Zeit schließen, begleitet von den Klängen der Natur: blökende Schafe, Hundegebell, unverständliche Menschenstimmen. Ein Sturm zieht auf, Donnergrollen, dunkle Wolken. Der Wind reißt, es ist kaum zu erkennen, den Fensterladen einer Hütte ab, bricht den Ast eines Baumes. Es wird Nacht, und im verlassenen Dorf glimmt ein einzelnes Licht auf, Rauch entweicht aus einem Schornstein in die Dunkelheit. Der Frühnebel legt sich erneut übers Land.
In einer knappen Viertelstunde erzählt dieser Film einen ganzen Tag. Oder ein Jahr? Oder Jahrhunderte? Was Mariam Kapanadze geschaffen hat, ist eine poetische Reise ohne Worte, atmosphärisch, Material für Assoziationen und ein bemerkenswert einfaches Eingeständnis der Vergänglichkeit.
Thassilo Vahlenkamp
They Dream in My Bones (Insemnopedy II) (FR 2021; Regie: Faye Formisano)

Ich wollte They Dream in My Bones wirklich mögen. Der Extended-Reality-Film, gestreamt durch eine VR-Brille in der Ausstellung Extended Reality: DOK Neuland. Chaos Is a Condition, folgt in collagierten, teils digital erstellten, teils gefilmten Schwarz-Weiß-Bildern einem fiktiven Paläontologen, der ein unbekanntes Skelett mithilfe der in den Knochen gespeicherten Träume identifizieren will.
They Dream in My Bones nimmt uns mit auf eine Reise durch diese Träume. Hypnotische Stimmen fragen, was man „wirklich“ sei, wenn man sich als Mann und als Frau träumt; die Erinnerungen des Forschers und der unbekannten Person scheinen sich zu mischen. Wir fliegen durch eine Tropfsteinhöhle, gleiten langsam durch ein in der Mitte geteiltes Skelett; der Film kombiniert faszinierend geheimnisvolle Bilder. Was jedoch fehlt, und das ist frustrierend, ist ein konsequenter Umgang mit Extended Reality, denn meist schaut man eben doch einfach auf eine Leinwand in einem schwarzen Raum.
Tatsächlich bietet They Dream in My Bones keinen Grund, überhaupt in diesem Format präsentiert zu werden. Im 2D-Kino hätte sich an der Betrachtung nicht viel geändert. Der Zauber des angeblich Neuen erhält sich vermutlich nur für diejenigen, die nicht mit Titeln wie Half Life: Alyx (Valve, 2020) oder dem gegenwärtigen VR-Videospielmarkt vertraut sind.
Beau Maibaum
Abyssal (FR/CU 2021; Regie: Alejandro Alonso)

Wenig wird gesprochen in diesem Film und wenn, so wirken die Themen zufällig, fragmentarisch, bezuglos. Dafür sprechen die Mienen umso lauter. Die Arbeiter, alles Männer, wirken verloren, ziellos suchend. Auch nicht so, als arbeiteten sie planvoll und strukturiert, sie hämmern eher hier ein bisschen, stochern dort ein wenig herum, beschäftigen sich irgendwie, fast wie Kinder. Während sie warten.
Warten auf Godot? Männer an einem scheinbar zeitlosen Ort, in einer postapokalyptisch anmutenden Umgebung, darin verirrte Tauben und Überbleibsel einer längst verblichenen Vergangenheit. Alejandro Alonso setzt in seiner fesselnden Inszenierung dieses eigenwilligen Ortes und der darin umherirrenden Personen auf die Kraft der Bilder, in ruhigen, langen Einstellungen, die von sphärischen Klängen und dumpfem Rauschen begleitet werden.
Scheinbar sind diese Geräusche ohne Herkunft. Vielleicht kommen sie aus dem dunklen, labyrinthartigen Rumpf der gestrandeten stählernen Giganten? Ein Moment von Kubricks Space Odyssey (1968) ist dem Film eingeschrieben, der beinahe meditativ, doch bisweilen auch ein wenig unheimlich ist.
Thassilo Vahlenkamp
Handbuch (DE 2021; Regie: Pavel Mozhar)

Alexander Lukaschenko, Diktator in Belarus, kann sich nach der Wahl im August 2020 nur mit Gewalt an der Macht halten. Immer wieder gehen die Menschen gegen das Regime auf die Straße. Die Nachrichten, die auch der aus Minsk stammende Filmemacher Pavel Mozhar in Berlin in seinem Neuköllner Zimmer während des Lockdowns verfolgt, zeigen massenhafte brutale Verhaftungen.
Doch was passiert mit den Festgenommenen? Dieser Frage geht Mozhar in seinem WG-Zimmer auf den Grund. Man hört Augenzeugenberichte, gesprochen von einer weiblichen und einer männlichen Stimme, Beschreibungen, was die Inhaftierten an physischer und psychischer Gewalt und Folter während ihrer Verhaftung erlebt haben. In dem nun leeren Zimmer skizzieren stellvertretende Darsteller*innen die physischen Misshandlungen. Ein Vermummter demonstriert mit einem Schlagstock die Schläge. Einziger Lichtblick dieser Rekonstruktion sind die Beschreibungen der Solidarität zwischen den Gefangenen, etwa wenn berichtet wird, wie sie sich gegenseitig wärmen und das wenige Wasser, das sie bekommen, untereinander aufteilen.
Man kann den Bildern vor dem eigenen Auge nicht entkommen. Der Film erschüttert und macht erfahr- und greifbar, was Nachrichten auslassen.
Johanna Marx
Diese Texte entstanden im Rahmen des Seminars „DOK Leipzig – Fragen an den aktuellen Dokumentarfilm“ der Stiftung Universität Hildesheim.








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