Locarno 2012: Rückblick

Die Neugier der Protagonisten erwidern: Zahlreiche Filme an der Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm prägten das diesjährige Filmfestival in Locarno. Über Höhepunkte in einem soliden Wettbewerb.

Los mejores temas

Ein junger Mann verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von selbstgebrannten CDs der einhundert besten mexikanischen Schlager. Um Fragen potenzieller Kunden beantworten zu können, lernt er fleißig, mal mit seiner Mutter, mal alleine, alle Titel auswendig. Das Einstudieren dieser Liedtitel zieht sich wie ein roter Faden durch Nicolás Peredas Greatest Hits (Los mejores temas). Peredas sechster Langfilm ist eine komplexe Verschränkung von fiktiven und dokumentarischen Momenten. Was genau sieht man in den immer wiederkehrenden, leicht variierenden Szenen, in denen der junge Mann die Titel auswendig lernt? Einen Schauspieler, der eine Szene spielt, oder jemanden, der für eine Szene probt und gerade das Drehbuch liest?

Dass Los mejores temas als erster Film des internationalen Wettbewerbs gezeigt wurde, dürfte kein Zufall gewesen sein. In seiner anspruchsvollen Weise, mit dokumentarischen Mitteln umzugehen, stand er für zahlreiche weitere Filme des Festivals wie den portugiesischen The Last Time I Saw Macau (A Última Vez Que Vi Macau) oder When Night Falls (Wo hai you hua yao shuo) aus China.

Glanz des Tages

Ein weiteres Beispiel für einen Film, der an der Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm operiert, ist die österreichische Produktion Der Glanz des Tages von Tizza Covi und Rainer Frimmel (La pivellina, 2009). Im Zentrum des Films stehen der Schauspieler Philipp Hochmair und der Zirkusartist Walter Saabel. Hochmair ist ein gefragter Schauspieler und pendelt zwischen Hamburg und Wien. Saabel stand dagegen sein Leben lang in der Zirkusmanege, zu seinen legendärsten Nummern gehörte ein Kampf mit einem Bären. Wenn sich die beiden treffen, dann sprechen sie über ihre Arbeit, ihre Kunst und ihr Leben. Die Szenen sind improvisiert, basieren jedoch stets auf den tatsächlichen Leben der beiden Hauptdarsteller. Der Glanz des Tages ist ein leichtfüßiger Film, der mit Zuneigung und Feingefühl seine tatsächlich existierenden Figuren in die fiktive Handlung einbettet.

Museum Hours

Ebenfalls in Wien ist der neue Film des US-Amerikaners Jem Cohen angesiedelt. Museum Hours erzählt eine denkbar einfache Geschichte. Eine Frau reist nach Wien, um ihre im Koma liegende Cousine zu besuchen. Es ist ihr erster Aufenthalt in der Stadt, und sie spricht im Kunsthistorischen Museum einen dort arbeitenden Aufseher an. Er führt sie nicht nur durch das Museum, sondern zeigt ihr auch Wien und kümmert sich um die Kommunikation mit dem Krankenhaus. Ist Der Glanz des Tages ein Film über Menschen, so ist Museum Hours ein Film über Orte. Er verlässt immer wieder die beiden Hauptdarsteller, fängt stattdessen Eindrücke und Momente des Museums und der Stadt ein. Großartig die Szene, in der eine Museumsmitarbeiterin einer Gruppe skeptischer Touristen die Bilder von Breughel erläutert.

Leviathan

Von dieser kontemplativen Ruhe ist in der amerikanisch-französischen Koproduktion Leviathan nichts mehr zu spüren. Die Filmemacher Véréna Paravel (Foreign Parts, 2010) und Lucien Castaing-Tayler (Sweetgrass, 2009) begleiteten Fischer auf ihren mehrtägigen Fahrten vor der Küste New Bedfords. Anstatt jedoch einen Dokumentarfilm über die Fischerei zu drehen, schufen sie ein abstraktes und immersives Stück Kino, das man am besten als Gothic-Horror-Film umschreiben könnte. Wellen, Regen und die harte Arbeit lassen Leviathan nicht zur Ruhe kommen. Die kleinen digitalen Kameras bewegen sich frei von jeglichen Beschränkungen: Sie werden geworfen, an Netze, Hände, Hüften und Köpfe festgebunden und zwischen den Fischern und Filmemachern hin und her gereicht. Die dabei entstandenen Aufnahmen sind spektakulär. Mal tauchen die Kameras ins Wasser, bevor sie mit Gewalt wieder rausgerissen werden, mal befindet man sich inmitten eines Möwenschwarms, der über dem Boot fliegt. Leviathan gelingt es auf herausragende Art und Weise, die Gewalt und Härte der Arbeit der Fischer einzufangen. Diese Tour de Force, die man in dieser Form im Kino wohl nur selten gesehen hat, war der herausragende Film des Festivals und eine singuläre Erscheinung im ansonsten lediglich soliden Wettbewerb.

Starke Präsenz des US-Independent-Films

Starlet

Wie bereits in den vergangenen zwei Jahren war das unabhängige US-amerikanische Filmschaffen in allen Sektionen außerordentlich stark vertreten. Im internationalen Wettbewerb fanden sich gleich sechs amerikanische Filmemacher: Neben Jem Cohen und Lucien Castaing-Tayler präsentierten auch Craig Zobel mit Compliance, Bob Byington mit Somebody Up There Likes Me, Bradley Rust Gray mit Jack and Diane sowie Sean Baker mit Starlet ihre neuen Filme. Letzterer gehörte zu den überzeugendsten amerikanischen Produktionen in Locarno. Starlet erzählt von der 21-jährigen Jane, die sich ihr Geld als Pornodarstellerin verdient und auf einem Flohmarkt von der 85-jährigen Sadie eine Thermoskanne kauft, in der sich 10.000 Dollar befinden. Unschlüssig, wie sie sich verhalten soll, fährt sie zu Sadie, erwähnt ihren Fund jedoch nicht. Stattdessen nähern sich die beiden Frauen langsam einander an. Getragen von starken Schauspielleistungen und einer zurückhaltenden Inszenierung, findet Starlet in seinen leisen Momenten zu großer Stärke.

Ortschaften

Inori

Besonders zu überzeugen wusste dieses Jahr die Nebensektion Cineasti del presente, die den ersten und zweiten Werken junger Regisseure gewidmet ist. Auch hier gehörten dokumentarische Filme zu den Beiträgen, die den stärksten Eindruck hinterließen. In Inori filmte der mexikanische Filmemacher Pedro González-Rubio (Alamar, 2009) ein kleines Dorf in den Bergen Japans. War Kannogawa einst ein lebendiger Ort, so wohnen heute nur noch sehr wenige und fast nur noch ältere Menschen dort. Man trifft sich im lokalen Krankenhaus, reflektiert über das Leben und kocht zu Hause sein Essen. Inori ist bestechend gefilmt, und der Regisseur begegnet den Dorfbewohnern mit großer Zurückhaltung. Ein nicht minder eindrückliches Porträt eines Ortes ist Tectonics des Amerikaners Peter Bo Rappmund. In seinem experimentellen Landschaftsfilm dokumentiert er die amerikanisch-mexikanische Grenze anhand ihrer physikalischen Eigenschaften. Mit einer Fotokamera aufgenommen, die pro Sekunde ein Bild machte, und anschließend im Computer animiert, entstanden spektakuläre Impressionen dieses hochgradig militarisierten Grenzgebietes. Dabei geht es Rappmund um die Frage, wie eine Grenze aussieht. Nicht minder wichtig ist jedoch, was er mit seinen Bildern nur andeutet: die vielen Flüchtlinge, die beim Versuch, in die USA zu gelangen, ums Leben gekommen sind.

Peoples Park

Einen Streifzug durch einen berühmten Park im chinesischen Chengdu unternimmt People’s Park von Libbie D. Cohn und J.P. Sniadecki (Foreign Parts, 2010). Mittels einer 78-minütigen ununterbrochenen Kamerafahrt dokumentieren sie das bunte Treiben an einem Samstagnachmittag. Langsam bewegt sich die Kamera an tanzenden Paaren vorbei, blickt in Teehäuser und betrachtet zahlreiche Spaziergänger. Durch den Verzicht auf jegliche Schnitte entsteht auf der Leinwand ein Sog. Letzten Endes ist People’s Park ein Film über Blicke. Mit der gleichen Neugier wie viele Parkbesucher direkt in die Kamera blicken, erwidern wir ihren Blick und schauen gebannt in ihre Gesichter.

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