White Plastic Sky – Kritik
Berlinale 2023 – Encounters: Die Dialektik der Aufklärung eine Schraube weiterdrehen: White Plastic Sky fantasiert sich in eine Welt ohne Fantasie und ins Apokalyptische ohne Apokalypse.

Eine tiefe Verunsicherung überschattet die Sichtung von White Plastic Sky, und eine wahrscheinlich arrogante Frage: Weiß der Film überhaupt, was er uns hier zeigt? Sie scheint deshalb berechtigt, weil Tibor Bánóczki und Sarolta Szabó die vielleicht schlimmste Dystopie zeichnen, die ich seit langem gesehen habe, gerade weil sie in ihrem Gestus verhältnismäßig wenig alarmiert ist: Das Apokalyptischste ist nämlich, wie die Apokalypse abgewandt wurde: So gibt es Budapest zwar noch, nur eben unter einer überdimensionalen Plastikglocke, die sie von der unbelebten Erde abschirmt, damit das Leben weitergehen kann. Naja, „Leben“: und das auch nur bis man 50 ist und jeder Bürger seinen Körper als Nährboden spenden muss, selbst zum Baum auf einer Plantage wird, stirbt und lebt zugleich, nur noch seinen Fingerabdruck auf den Blättern hinterlässt. White Plastic Sky dreht noch eine Ehrenrunde in der Dialektik der Aufklärung: Industrielle Massenvernichtung nicht mehr als beispielloses Verbrechen, sondern als lebensspendende Tat für die Menschheit, für die Umwelt, für die Gesellschaft, als ihr einziger Ausweg. Endlich gibt es das richtige Leben im falschen, weil der Mensch auf perverseste Weise mit der Natur versöhnt ist.
Die Katastrophe managen

Von Geburt an wissen die Bürger Budapests, wann sie sterben werden müssen und der Abschied kann geplant werden: Was einmal werden soll, steht fest, damit die Gesellschaft weiter entscheiden darf, was aus ihr noch werden kann. Eigentlich nicht auszuhalten dieser Gedanke. Deswegen haben Psychiater wie Stefan (Tamás Keresztes) alle Hände voll zu tun, das Leiden erträglicher zu machen. Und trotzdem ist hier der Selbstmord kein großes Tabu mehr, sondern letztlich auch noch Dienst am Menschen, Recycling derer, die es nicht bis 50 schaffen, integriertes Elend. Stefans Frau Nora (Zsófia Szamosi) geht diesen Weg, lässt sich verfrüht einen Samen einpflanzen, sich abtransportieren, einschläfern, aufstellen auf der Plantage zwischen den anderen, den langsam Äste aus den Armen und Wurzeln aus den Füßen wachsen sollen. Und Stefan wird ihr hinterhereilen, sie retten, in dem Wissen, dass ein Frühtod verhindert werden kann. Es folgt eine Flucht vor den Behörden und eine Odyssee durch die abgestorbene Welt.
Dystopieverwirrungen

White Plastic Sky treibt zwei entgegengesetzte Extreme so weit, bis sie sich wieder berühren: Leben und Tod sind untrennbar ineinander verstrickt, das eine als die ganz reale Bedingung der Möglichkeit des anderen und vice versa. Regung und Lähmung in den Bildern genauso: Bánóczkis und Szabós vergleichsweise schlichte Rotoskopie ist nur vielleicht Bewegung, vielleicht Stillstand, vielleicht beides, vielleicht nur Austausch des Stillstands durch einen weiteren, vielleicht also einfach: Film. Und überhaupt: Was ist die Rotoskopie für eine besondere Form der Animation, was für eine Schimäre aus Fotografie und Malerei, aus Realität und Fantasie? Und damit wohl auch aus Gegenwart und Zukunft: Leicht vorzustellen, dass diese Umweltdystopie aus unserer Gegenwart erwachsen ist, viel schwerer vorzustellen, dass ihre Gegenwart irgendwie unsere meint. Toll an diesem Film ist, dass er dazu verleitet, diesen Gedanken immer wieder zu wagen.

White Plastic Sky könnte jedenfalls kaum anders gemacht sein: Form und Inhalt, Technik und Gehalt sind hoffnungslos verschmolzen, müssen es sein, damit der Film als die gegenseitige Durchdringung erscheint, die sie ist. So wie hier eben die Existenz einer Gesellschaft von Maschinen abhängt, die sie permanent vernichtet und damit sichert. White Plastic Sky ist so sehr Horrorszenario, dass eine technische Vision eigentlich ausgeschlossen ist, und das Besondere an diesem Film ist nicht, dass er trotzdem am Ende eine findet, sondern dass mir dabei nicht klar ist, ob sie nicht nur eine weitere Verschiebung der absoluten Apokalypse ist, die das Apokalyptische hier erst definiert hat. Vielleicht also kein Ausweg, sondern nur der Abschluss des Teufelskreises? Eine neue tiefe Verunsicherung: Weiß ich überhaupt, was mir da gezeigt wird?
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