Vom Lokführer, der die Liebe suchte... – Kritik
Einen BH hat Lokführer Nurlan schon, fehlt nur noch die Frau. Veit Helmer erzählt in seiner dialogfreien Komödie von Nurlans Suche – und von einer Zeit ohne Sexismus-Debatten.

Es ist keine leichte Aufgabe für einen Mann, einen passenden BH für eine Frau zu finden. Lokführer Nurlan (Predrag Manojlovic) hat jedoch noch eine viel schwierigere Aufgabe: Er sucht die passende Frau zu einem BH. Ausgerechnet an seinem letzten Arbeitstag ist das Teil gegen Nurlans Lok geflattert und hat sich dort verfangen. Immerhin: Als Neu-Rentner bleibt ihm reichlich Zeit für das Auffinden der Besitzerin.
Denis Lavant als Vollkasko

Es gibt viel zu sehen in Veit Helmers komplett dialogfreier Komödie Vom Lokführer, der die Liebe suchte … – die aserbaidschanische Berglandschaft etwa oder einen ausrangierten Waggon voller archaischer Eisenbahnutensilien, die nachts Industrial-Musik spielen. Und natürlich – wie schon in Helmers starkem und ebenfalls wortlosem Debüt Tuvalu (1999) – den grandiosen Denis Lavant, der für Regisseure eine Art Vollkaskoversicherung ist und mit seiner sehr physischen Komik perfekt zu einem Film ohne Sprache passt.

Aber die beeindruckendsten Szenen sind wohl doch jene, in denen wir Nurlans Zug zum ersten Mal durch ein inzwischen abgerissenes Stadtviertel von Baku donnern sehen und verstehen, wie es zur unbeabsichtigten Mitnahme des Büstenhalters kam: Die Bahntrasse ist so eng, dass die Lok beinahe an die Hauswände schrammt. Mit viel Getöse holtert und poltert das Ungetüm in diese Welt hinein, lässt sie erzittern und schleift Bettlaken, Tücher oder eben BHs mit sich. Jedes Mal, wenn Nurlan anrauscht, springt ein kleiner Junge (Ismail Quluzade) aus seiner Bleibe – einer Hundehütte – und rennt über die Gleise, um die Bewohner des Viertels mit seiner Trillerpfeife vor dem nahenden Zug zu warnen. Die Männer packen panisch ihre Stühle und Spielbretter und tragen sie aus dem Gleisbett, die Frauen zerren ihre Kinder mit sich und greifen hastig nach den Wäscheleinen, die sie quer über die Bahnstrecke gespannt haben.
Tittenparade in der mobilen Praxis

Regisseur Veit Helmer scheint die Stärke dieser Szenen bewusst zu sein, denn er zeigt sie immer wieder. Doch mit jeder Wiederholung verlieren sie an Wirkung. Der Hauptteil des Films, Nurlans Suche nach der Besitzerin des BHs, setzt ebenfalls auf Running Gags – und auch deren Potenzial schleicht sich langsam aus: Der frisch Pensionierte streift von Haus zu Haus und bittet die Bewohnerinnen, den BH anzuprobieren. Die eine füllt ihn nicht aus, bei der anderen spannt er zu sehr, mal erntet Nurlan eine Ohrfeige, mal lüsterne Avancen, dann wieder jagt ihn einer der diversen Ehemänner unter Androhung von Prügel quer durchs Viertel.

Wesentlich schwerwiegender ist jedoch, dass sich in der zweiten Hälfte Szenen mehren, die sich durchaus als ethnozentrisch oder sexistisch lesen lassen. Kaum eine Figur wird je hier zu einem echten Charakter – doch besonders in den jungen Männern versammeln sich alle möglichen Klischees vom primitiven, grobschlächtigen, gewalttätigen Osteuropäer. Und wenn sich Nurlan als Arzt verkleidet, um unter dem Vorwand der Brustkrebsprävention dem Objekt seiner Begierde näher zu kommen, dann entspinnt sich daraus in der mobilen Praxis eine wahre Tittenparade, in der unzählige (gesichtslose) Frauen obenrum blankziehen. Auch wenn Nurlan fast schon märchenhaft rein ist und tatsächlich nach der Liebe statt nur nach Brüsten sucht: Als Zuschauer fällt es heutzutage schwer, hierin ausschließlich ein Aschenputtel-Update zu sehen und nicht auch eine klamaukige Altherrenfantasie.
Stilistische und narrative Nostalgie

Wie fast alle Veit-Helmer-Werke ist auch Vom Lokführer nicht nur von verschrobenen Charakteren und skurrilen Einfällen durchzogen, sondern auch von Nostalgie. Die fällt zunächst primär visuell auf: Helmer hat teils auf Film gedreht und dem restlichen, digitalen Material einen analogen Look verpasst. Artefakte wie Laufstreifen und Flecken schleichen sich in die Bilder ein, die Belichtungsintensität schwankt innerhalb von Szenen, als hätte jemand im Labor nicht aufgepasst. Das hat durchaus seinen Charme – fast glaubt man, eine durchgenudelte Kopie zu sehen, in die sich die Vergangenheit physisch eingeschrieben hat.

Doch diesmal setzt sich die Nostalgie auch in der Erzählung fort: Wir tauchen ab in eine aus der Zeit gefallene Welt, in der museumsreife Loks durch die Steppe fahren, Handys und Internet anscheinend nicht existieren und Geschlechterrollen noch klar verteilt sind. Helmer blickt mit viel Wärme auf diese Welt, doch dieser Romantisierung der Vergangenheit wohnt auch etwas Regressives inne. Es ist schließlich nicht nur eine Welt ohne Handys und Internet, sondern auch eine, die aktuelle Diskurse über kulturelle und sexuelle Machtverhältnisse geflissentlich ignoriert.
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Kommentare
Peter Tönnies
"schwerwiegender ist jedoch, dass sich in der zweiten Hälfte Szenen mehren, die sich durchaus als ethnozentrisch oder sexistisch lesen lassen."
Filmkritik im Jahre 2019 . Bin schon auf 2029 gespannt.
1 Kommentar