Undine – Kritik
VoD: Liebe schlägt um in Eifersucht schlägt um in Verlust. Undine erzählt das als sprunghaftes Wechselspiel zwischen Realität und Märchen. In die klaffenden Lücken strömt viel Wasser, das auch das Stadtgebiet Berlins unterspült.

Undine und Christoph werden durch das Wasser vermählt. Gerade sind sich die Historikerin und der Industrietaucher in einem Berliner Café begegnet, es wurden ein paar verhaltene Worte gewechselt, die Annäherung schien schon gescheitert. Da stolpert Christoph in ein breites Holzregal, auf dem ein laut blubberndes Aquarium steht. Das Glas zerbirst, die beiden fallen zu Boden, und eine Welle brandet wie aus der Tiefe des Ozeans über ihre Gesichter. Der großstädtische Innenraum hat sich für einen Moment aufgetan, ein elementares Chaos ist in ihn eingedrungen und hat die Rituale menschlichen Zusammenseins kurzzeitig ausgehebelt. Wie an ein fremdes Ufer gespült blicken Undine und Christoph einander unter durchnässten Haaren an – im Bewusstsein, dass sie nun untrennbar miteinander verbunden sind.
Wie schon in seinem Vorgängerfilm Transit verschränkt Christian Petzold in Undine verschiedene Realitätsebenen, ohne dass eine davon je einen privilegierten Status beanspruchen könnte, ein gesichertes Fundament, von dem aus sich das gesamte Geschehen widerspruchsfrei deuten ließe. Waren es in Transit verschiedene historische Epochen (die Gegenwart und die Zeit des Zweiten Weltkriegs), die derart unterschiedslos ineinanderflossen, so verbinden sich in Undine die stabilen Strukturen der Alltagswirklichkeit mit den sprunghaften Zusammenhängen des Märchens. Denn vielleicht ist Undine nicht nur die reservierte Historikerin, als die sie in Erscheinung tritt, vielleicht ist sie ein Wesen, das in den Tiefen der Sagenwelt beheimatet ist – vielleicht ist sie tatsächlich jene Wasserelfe, deren Namen sie trägt.
Drei Minuten. Fünf Minuten. Ich liebe dich.

Dabei erschöpft sich das Märchenhafte in Petzolds Film nicht in einigen unerklärlichen, scheinbar übernatürlichen Ereignissen. Auch die Liebesgeschichte zwischen Christoph und Undine vollzieht sich sprunghaft, anhand von einzelnen Episoden, deren zeitlicher Abstand oft nicht eindeutig umrissen ist und deren kausaler Zusammenhang deshalb in der Schwebe bleibt. Liebevoller Überschwang schlägt um in plötzliche Eifersucht schlägt um in den Schmerz des Verlustes – und es wirkt, als wären auch die Figuren ganz unvermittelt in diese Situation und Zustände geworfen worden. In diesem gerafften Duktus nähert sich Petzold der Erzählweise des klassischen Märchens an. Denn auch im Märchen existieren die Figuren nicht für sich, als voll ausgeformte Persönlichkeiten, sondern vor allem durch die Erzählung, in die sie eingespannt sind. Es ist die Struktur der Erzählung, der Zusammenhang der Ereignisse, der den Figuren Form und Leben verleiht – nicht umgekehrt.
Begegnungen in der Tiefe
In die Lücken, die in den kausalen Zusammenhängen klaffen, strömen in Udine die geheimnisvollen Bewegungen des Wassers. Immer wieder kehrt Petzolds Film ans Wasser zurück – vor allem an einen Stausee in der westfälischen Provinz, in dem Christoph als Taucher für die Instandhaltung der unter der Oberfläche liegenden Turbinen verantwortlich ist. Die dunkle Tiefe wird zum Ort des Übergangs: Hier gibt es versunkene Städte, hier leben fremdartige und doch freundliche Wesen wie etwa ein riesenhafter Wels namens „Großer Gunther“, hier können auch die Menschen selbst, können Christoph und Undine mühelos zwischen der Wirklichkeit und dem Reich des Imaginären hin und her wechseln.

Doch das Wasser unterspült auch das Stadtgebiet Berlins, dessen Name, wie an einer Stelle erläutert wird, einem alten Wort für „Sumpf“ entstammt. Hier arbeitet Undine in der Verwaltungsbehörde für Stadtentwicklung und empfängt reihenweise Besuchergruppen, denen sie anhand großflächiger Modelle die historische Entwicklung des Stadtbilds erklärt. Petzold gibt diesen Vorträgen viel Raum, sie sind in einem offiziösen, gestelzten Tonfall gehalten und voll mit vorgestanzten Wortgruppen. Es ist eine politische Ideologie, zu deren Sprachrohr Undine hier wird (oder deren Vorgaben sie sich zumindest beugen muss) und die sich in einem ganz bestimmten Gebäude bündelt: dem Berliner Stadtschloss, dessen originalgetreuer Wiederaufbau zum Sinnbild eines geschichtsvergessenen Wohlstandskonsens wird.
Schmetterlinge im Schaukasten
Das Wechselspiel aus Realität und Märchen wird in Udine somit in einen ganz konkreten, geschichtlich entstandenen Raum eingebettet. Dabei legt es Petzold jedoch gar nicht so sehr darauf an, diese verschiedenen Schichten unmittelbar ineinander aufgehen oder in einem gemeinsamen Kulminationspunkt zusammenlaufen zu lassen. Liebesgeschichte, fantastische Motivik und gesellschaftlich-politische Verortung laufen in Udine größtenteils parallel. Bedeutsamkeit entfaltet sich dabei vor allem in der ständigen Suche nach strukturellen Entsprechungen, nach wiederkehrenden Mustern, nach Zusammenhängen, die sich gedanklich von der einen auf die andere Ebene übertragen lassen. Was es nicht wirklich gibt, und was man (wie ich) vermissen kann, sind Momente, in denen der Film erkundet, wie sich die abstrakten – also den Horizont eines einzelnen menschlichen Daseins übersteigenden – Dynamiken dennoch in einem individuellen Leben und Erleben niederschlagen.

Aber vielleicht bleibt Petzold gerade darin seiner Rückbindung an die Funktionsweise des Märchens treu. Denn im Märchen werden unterschwellige Ängste, Sorgen und Sehnsüchte zu Erzählungen ausgeformt, nicht um diese verschiedenen Regungen für uns mit Leben zu füllen, sondern um ihre einzelnen Elemente zur genaueren Betrachtung vor uns auszubreiten. Man erkennt und vergleicht, man verfolgt Wiederholungen und Variationen, man teilt ein und fasst in gemeinsame Gruppen zusammen. Folglich existiert das Märchen auch in der Regel als Teil einer Sammlung – es ist vor allem geschaffen für einen systematisierenden, synoptischen Blick.
Der Film steht bis 12.11.2022 in der Arte-Mediathek.
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Friedrich
Ein bloßes Fernsehstudio unter Zeitdruck, das kurz davor steht, sich selbst live das Scheitern eingestanden haben zu müssen, hat manchmal nichts als die Wahl, uns sich selbst zu zeigen: "Und ich gucke hier auf diese goldene Tür, ich weiß, Paula Beer steht da draußen, und meine Kollegin versucht gerade, sie schnell von den ganzen Menschen wegzuziehen, die ihr gratulieren." Zerrbild gewissermaßen. Medienpartnerschaft. Eifersucht, fast körperlich spürbar. Ein Liebesfilm sieht anders aus.
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