Der schlimmste Mensch der Welt – Kritik

VoD: Angegriffene Männlichkeit und eine Frau, die vieles mitmacht. Joachim Trier baut Beziehungsgebilde, die von der Gegenwart zeugen sollen – und tief blicken lassen.

Zunächst einmal betont Joachim Triers neuer Film das Romanhafte: In zwölf Kapiteln plus Prolog und Epilog will er von Julie erzählen, am Anfang steht ihre Strebsamkeit, das Medizinstudium, das sie abbricht, dann die Psychologie, dann die Fotografie. Wie so vieles in diesem zugespitzt organisierten Film wird dieser Prolog in Montage-Sequenzen zusammengefasst, die bedeutsame Momente aneinanderreihen. Wie ein Akkordeon, das sich ausbreitet und wieder verdichtet, fließt die Erzählweise von schnell zu langsam, von momenthaft zu synthetisch.

Angeblich gleichberechtigt

Ganz nach Belieben wechselt Trier, der das Drehbuch von Der schlimmste Mensch der Welt zusammen mit Eskil Vogt geschrieben hat, im Rhythmus, in der Tonalität, im Register. Nur die Perspektive, die kann oder will er nicht wechseln: Eine weibliche Stimme aus dem Off dominiert den Film ganz zu Beginn und wird später in einigen Momenten eine prominente, spielerische Rolle einnehmen, weil sie verdoppelt, was zu sehen und im Dialog zu hören ist.

Diese Stimme behauptet, dass der Film die Geschichte von Julie erzählt, obwohl es in weiten Teilen um ihre Beziehung zu einem Mann, einem älteren Künstler geht. Aksel (Anders Danielsen Lie) zeichnet Comics und hält viel darauf, dass in Independent-Comics die Tiere auch scheißen. Irgendwann wird er auch zu einer hilflosen Verteidigung von Misogynie in der Kunst ansetzen (und die Kritik daran als Zensur bezeichnen), und obwohl er damit inzwischen auf verlorenem Posten steht, solidarisiert sich der Film mit ihm, gibt ihm Krebs, schenkt ihm Mitleid.

Julie und Aksel sind nicht ganz eine Generation auseinander, und doch treffen sich in der Beziehung zwei unterschiedliche Perspektiven aufs Leben, mit 30 und mit Mitte 40. Wobei der Film sich nicht ehrlich macht, nicht ehrlich machen kann: Er will daran glauben, dass der Blickwinkel von Julie gleichberechtigt eine Rolle spielt und betont das in den Gesprächen und narrativen Verästelungen, doch Julie ist immer Bezugspunkt von anderen, von Eltern, von Männern. Sie ist Spielball, lässt es mit sich geschehen, gibt nur ein bisschen Widerrede. Tatsächlich blickt Der schlimmste Mensch der Welt aus der Perspektive des älteren Künstlers auf sie, so sehr er diesen Umstand auch zu verwischen versucht.

Das Lachen des Sitznachbarn

Renate Reinsve ist in der Rolle von Julie phänomenal: Sie zieht die Blicke der Männer nur so auf sich, hat eine elektrisierende Präsenz, gibt der Rolle das Eigenwillige einer Frau, die den Eindruck erweckt, einfach nur zu sein, obwohl sich ganze Dramen in ihr abspielen. Julie hat fast immer Spaß, aber wichtiger noch: Die Männer haben in ihrer Gegenwart eine fantastische Zeit. Sie scheint die Fäden in der Hand zu halten, zu bestimmen, wo es lang geht, und gleichzeitig lässt sie sich treiben. Julie hat das Spiel der Geschlechter perfektioniert, vor allem im ausgedehnten Balzritual. Will sie erobert werden?

Später im Film geht es auch noch um eine andere Liebe, doch Triers Interesse daran ist nicht so ausgeprägt. Ist die Verführung einmal vorbei, scheinen die Reize an der Beziehung zu schwinden. Der schlimmste Mensch der Welt ist kein bescheidener Film, im Gegenteil: Sehr frei und selbstbewusst fühlt er sich an, tritt immer wieder ins Fantastische hinein und beschwört mit Dialogwitz und Momentaufnahmen das Epische der großen Liebe herauf. Weil er stilistisch zwischen subtilen Szenen und starken Effekten changiert, kommt es darauf an, sich in dieser Achterbahn gut geführt zu fühlen. Neben mir saß ein Zuschauer, der fast über die gesamte Laufzeit des Films immer wieder schallend gelacht hat. Würde ich den Film nochmal schauen, ich würde ihn gern mit seinem Blick sehen.

Der Film steht bis 14.06.2024 in der Arte-Mediathek.

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