The Twentieth Century – Kritik
MUBI: Wenn Guy Maddin keine Filme mehr macht, müssen eben andere Regisseure Guy-Maddin-Filme drehen. Sein einstiger Assistent versucht es mit einem freudianischen Polit-Melodrama in 16mm-Technicolor-Optik.

Um den Neostummfilm-Regisseur Guy Maddin ist es ruhig geworden in der letzten Dekade: Eine Auftragsarbeit hier, ein Digital-Experiment da, ein paar Kurzfilme zwischendurch. Und mit The Forbidden Room (2015) immerhin ein Werk, das an Maddins grandioses Œuvre des vorherigen Jahrzehnts anschließen kann, in dem der Kanadier unter anderem mit der somnambulen Doku My Winnipeg (2007), dem Bier-Musical The Saddest Music in the World (2003) und dem Meisterwerk Brand upon the Brain (2006) begeisterte.
Matthew Rankins The Twentieth Century (2019) ist nicht der erste Versuch eines früheren Maddin-Schülers, in die Fußstapfen des Lehrmeisters zu treten: Deco Dawson, einst als Cutter für Maddin tätig, sind etwa mit Film (Dzama) und Defile in Veil sehr schöne Kurz-Stummfilme gelungen, die sich primär an der Ästhetik von Maddins in Schwarz-Weiß gedrehten Werken orientieren. Rankin hingegen arbeitet mit Technicolor-Bildern und hörbaren Dialogen, sein Film ähnelt stilistisch daher am ehesten The Forbidden Room.
Bürgerkrieg per Schlittschuhlauf

Inhaltlich geht es in den zehn Kapiteln von The Twentieth Century um den früheren kanadischen Premierminister Mackenzie King – die Parallelen zur realen historischen Figur dürften aber gering sein, es sei denn, King hatte tatsächlich einen Blut und Eiter ejakulierenden Riesenkaktus in seiner Wohnung. Das Leben des Protagonisten ist von vier Problemen geprägt: Er scheitert mehrfach beim Versuch, Premierminister zu werden – obwohl er bei den anstelle einer Wahl stattfindenden Eignungstests hervorragend abschneidet, vor allem in der Disziplin „Robbenbabys totschlagen“. Als er doch endlich an die Macht kommt, muss er sich im per Schlittschuhlauf ausgetragenen Bürgerkrieg einer Rebellenbewegung aus Québec erwehren, deren Flagge von einem stark an das Coronavirus erinnernden Symbol geziert wird. Vor allem aber kämpft er gleichzeitig um die Liebe seiner mit einem Rivalen liierten Traumfrau und gegen seinen Stiefelfetisch, der ihn dank streng-viktorianischer Eigenrepression schließlich in ein Onanisten-Sanatorium führt.
Kurzum: Wie bei Maddin üblich, sehen wir einen hyperbolischen Mix aus Melodrama und Satire, in dem es vor höherem Unsinn nur so wimmelt. Auch die diversen Phallussymbole, die ödipalen Komplexe des Protagonisten, die dominante Mutter, das Gender Bending, den großzügigen Weichzeichner-Einsatz, die an den deutschen Expressionismus angelehnten Set-Landschaften und den Schauspieler Louis Negin – quasi der kanadische Udo Kier – hat sich Rankin bei Maddin geborgt. Das alles macht durchaus Spaß, insbesondere bei einem eskalierenden Staatsdinner und bei den absurden Eignungsprüfungen zur Auswahl des Premierministers.
Die Subtilität des Holzhammers

Allerdings bleibt Rankin bei alledem so nah an seinem Vorbild, dass es dem Film an Originalität mangelt und man – zumindest als an Maddin geschulter Zuschauer – nicht um den Vergleich mit dessen Arbeit herumkommt. Nun gehört Subtilität nicht unbedingt zu den Eigenschaften, die einem bei Maddin zuerst einfallen. Und doch wirkt Rankins Stil im direkten Vergleich wie jener Holzhammer, mit dem King auf die Robbenbabys eindrischt: The Twentieth Century ist arg auf schrill gedrillt, sei es beim Phallus-Kaktus oder bei der Darstellung von Winnipeg – der Heimatstadt von Rankin und Maddin – als Sünden-Slum, die kurz angerissen, aber dann nie wieder aufgenommen wird. Hinzu kommt die – bei Debütfilmen nicht unübliche – Überfrachtung mit Ideen, die sich vermutlich über Jahrzehnte hinweg angestaut haben. Das führt leider dazu, dass selbst die schöneren Einfälle manchmal im allgemeinen Gewusel untergehen.
Kanada: Eine einzige Enttäuschung

Dass The Twentieth Century beim Festival in Toronto dennoch als bester kanadischer Beitrag prämiert wurde, hängt sicherlich auch damit zusammen, wie respektlos er die landeseigene Geschichte durch den Kakao zieht. Dabei setzt der Film zum einen auf Provokation – der am längsten amtierende Premierminister, der sein Land durch den Zweiten Weltkrieg führte, als Mimose und sexbesessener Ödipus-Verschnitt – und zum anderen auf erwartbare Stereotype: etwa wenn es zur Amtseinführung Ahornsirup-Eis geben soll, das ganze Land stets von Schnee bedeckt zu sein scheint und jeder politische Kandidat der einstigen Holzfällernation Bäume anhand ihres Geruchs unterscheiden kann. Eishockey und der Biber sind so ziemlich die einzigen Nationalsymbole, die in The Twentieth Century nicht vorkommen.
Überraschend wirkt hingegen Rankins Beschäftigung mit Kanadas imperialer Vergangenheit. Heutzutage wird das Land von außen zumeist als friedfertig wahrgenommen – und als Nation, der die Umsetzung des US-amerikanischen Wappenspruchs „E pluribus unum“ („Aus vielen eines“) deutlich besser gelungen ist als dem südlichen (und einzigen) Nachbarn. Aber natürlich mussten auch in Kanada zunächst massenweise Indigene ermordet und frankophone Einwanderer unterdrückt werden, um das Land dem britischen Imperium einzuverleiben und anzupassen. Vielleicht ist es diese widersprüchliche Geschichte, die die Figuren dazu treibt, ihrer Landesflagge einen recht eigenwilligen Spitznamen zu verpassen: „Great Disappointment“.
Den Film kann man bei MUBI streamen.
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