The Beast – Kritik
Neu auf MUBI: Liebe und Einsamkeit auf drei Zeitebenen, Incel-Videos und die Angst vor dem Ende, das nicht kommt. Bertrand Bonellos The Beast assoziiert frei zu einer Kurzgeschichte von Henry James und lädt zum freien Assoziieren ein.
Eine Frau steht vor einem Greenscreen. Eine Stimme erklärt ihr, was sie nicht sieht und sich daher vorstellen soll. Der Greenscreen kann potenziell zu allem werden. Die Frau tritt auf die Kamera zu und muss sich einer reinen Soundkulisse erwehren. Ein Schrei schiebt den Titel ins Bild. Die Bestie ist da.
Die DNA reinigen

The Beast ist ein Film, der sich selbst über den Kopf wächst. Keine Reihe ineinander aufgehender Bilder, sondern ein Ensemble von unfertigen, angedachten, sich voneinander wegbewegenden Bildern. Die sich über drei Zeitebenen ziehende Erzählung hat ihren Ausgangspunkt im Jahr 2044, nachdem KIs die Welt gerettet haben und sie nun beherrschen. Diese Welt ist größtenteils leergefegt, die Menschen laufen mit Gasmasken durch die Straßen; um hier einen Job zu bekommen, muss man sich jeglicher Gefühlsregung entledigen. Gabrielle (Léa Seydoux) unterzieht sich einer Reinigung ihrer DNA, indem sie sich von einer Maschine (gesprochen von Xavier Dolan) in zwei frühere Leben zurückversetzen lässt, um ihre Traumata loszuwerden: ins Jahr 1910 kurz vor der großen Flut in Paris und ins Hollywood von 2014. Ein Reinigungsprozess, der nicht linear erzählt, sondern immer wieder durch Einschübe aus der Zukunft, Bildverzerrungen und andere Störungen unterbrochen wird.
Die Vorlage, Henry James’ Kurzgeschichte The Beast in the Jungle (1903), erzählt das Schicksal von John Marcher, der aufgrund seiner Voraussage, ihm werde etwas Schreckliches zustoßen, sein Leben lang nie seine Begleiterin an sich heranlässt – bis er schließlich erfährt, dass genau seine lebenslange Zurückhaltung im Angesicht des Kommenden dieses schreckliche Schicksal ist. Bertrand Bonellos Adaption ist weniger eine Verfilmung dieser Geschichte als eine Kette von Assoziationen zu ihren Motiven. Diese Lektürestrategie schlägt der Film gewissermaßen auch für seine eigene Betrachtung vor: Man muss nie das Ganze erfassen, darüber bietet einem The Beast genug Andockstellen zum Assoziieren.

Da wäre Léa Seydoux, die sich in The Beast durch alle Gefühlsstadien hindurch bewegt und bis zum Schluss schwer zu fassen bleibt. Sie spielt aber mitnichten die „mysteriöse Schönheit“, als die sie, obwohl viele ihrer Rollen das nicht mal hergeben, oft gelesen wird, sondern jemanden, der sich in durch verschiedene Rollen und Zeiten hindurch bewegt, ohne auf eine Auflösung hinzuarbeiten. Ihr Widerstand gegen die Austreibung ihrer Gefühle durch die KI ist kein aktiver, sondern ein innerer. In ihrem Gesicht und ihrer unbestimmten Präsenz drücken sich ein Gefühl und eine Stimmung aus, die so neu und aktuell sind, dass es schwerfällt, sie zu beschreiben.
In der Puppenfabrik

Gabrielle landet zu Beginn ihrer Reinigung im Frankreich des Jahres 1910, wo sie als Pianistin in der feinen Gesellschaft verkehrt. Die Szenerie ist, zumindest in ihren ersten Momenten, dem Anfang des James-Geschichte nicht unähnlich, doch sind die Geschlechter-Vorzeichen vertauscht: Nicht Louis (George MacKay), der ihr auf allen Zeitebenen immer wieder begegnet, fürchtet sich vor dem Beast, sondern Gabrielle. Beide spüren eine Anziehung, aber sind so hoffnungslos in ihrer Angst vor ihren Gefühlen verloren, dass sie nicht zueinander finden. Schließlich landen sie in einer Puppenfabrik, an einem Ort, an dem Intimität und Körper hergestellt werden. Die Objekte, das zieht sich durch viele Szenen des Films, schieben sich als Entäußerungen dessen, was die Menschen selbst nicht erleben können, in die Bilder hinein. Wenn wir sehen, wie eine Puppe zusammengesetzt wird, sehen wir, wie Gabrielle versucht, sich selbst zusammenzuhalten.
Und dann landen wir in einem Haus in Hollywood, in dem sich Gabrielle im Jahr 2014 als Villensitterin aufhält. Wieder taucht Louis auf, diesmal als potenzieller Mörder, der Gabrielle verfolgt. Bonello greift dabei den realen Fall von Elliot Rodger auf, der 2014 bei einem Amoklauf in Isla Vista sechs Menschen tötete und seitdem eine Art Heldenfigur der Incel-Szene ist. Er lässt George MacKay in verschiedenen Videosequenzen Texte von Rodger nachsprechen. In seinem ständigen Wechseln der Perspektiven auf Intimität und Liebe, dem sich der Film verschrieben hat, findet er hier eine besonders verstörende. Die Brutalität der Videos liegt darin, dass sie aus einer Realität kommen und einen radikalen Einblick in die Selbstwahrnehmung der Incels geben, wonach ihnen die Intimität, die sie sich wünschen, von einer ungerechten weiblichen Welt vorenthalten wird. The Beast zieht konsequent bis zum Ende durch, wohin diese Perspektive führt, ohne dabei die Position des Täters zu übernehmen, indem er die finale Horrorszene immer wieder resettet und die Fantasie von Gabrielle mit diesen Bildern spielen lässt.
Am Ende hoffnungsvoll

The Beast ist ein Film, der lieber noch ein Pop-Up-Fenster öffnet und sich von einer dubiosen Wahrsagerin das Leben erklären lässt, als nach einer Ordnung zu suchen. Immer wieder verschwimmt das Bild. Mehr noch als James’ Kurzgeschichte schwebt Twin Peaks: The Return (2017) über Bonellos Film. Auch dort ging es um ein namenloses Grauen, das nicht verschwindet, die Angst vor dem Ende, das nicht kommt, und einen gleichzeitig hoffnungsvollen Blick auf die Existenz der eigenen Gefühle. Seit Laura Palmers Schrei am Ende des Summer of Twin Peaks war das Gefühl eines unbestimmten Grauens in der Welt nicht mehr so präsent und so nachfühlbar wie in The Beast, und am Ende so hoffnungsvoll: Wenn man noch etwas spürt, kann es nicht vorbei sein.
Den Film kann man bei MUBI streamen.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „The Beast“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (7 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.