Balconettes – Kritik
Man verbringt gern Zeit mit den Figuren von Noémie Merlants Balconettes. Leider jedoch setzt die Geschichte von drei Frauen, die auf verschiedene Art mit sexueller Gewalt in Kontakt kommen, im Zweifelsfall eher auf Provokation denn auf emotionale Wahrhaftigkeit.

Balconettes (2025), der zweite Spielfilm Noémie Merlants, ist ein unhandliches Biest. Die begabte Schauspielerin, die unter anderem als Marianne in Celine Sciammas fantastischem Portrait einer jungen Frau in Flammen (2019) zu sehen war, beweist als Regisseurin immer wieder interessante Einfälle, doch leider kein Maß. Trotzdem ist die Energie, mit der ihr Team den Film zum Leben erweckt hat, mindestens beeindruckend. Letztlich bedeutet das, dass selbst ein etwas missratener französischer Film immer noch mehr interessante Ideen in sich trägt als ein Großteil der erfolgreichen deutschen Filme zusammen.
Rear Window in Paris

Dabei beginnt Balconettes mit einem soliden Unterbau: In der Pariser Innenstadt teilen sich die drei jungen Frauen Nicole (Sanda Codreanu), Ruby (Souheila Yacoub) und Élise (gespielt von Merlant selbst) eine Dachgeschosswohnung. Die Figurenzeichnungen sind recht archetypisch: die graue Maus, die Romane schreibt; die volltätowierte, sex-positive Poly Queen; die hyperfeminine Nachwuchs-Schauspielerin in Monroe-Perücke. Grell stechen sie allesamt hervor, doch fügen sie sich passend in die bonbon-bunte Welt des Films ein und tragen ihn bequem über das erste Viertel. Wenn die drei im heißesten Sommer aller Zeiten schwitzend in der Sonne baden oder laut plaudernd vier Kilo Pasta vernichten , verbringt man ganz gerne Zeit mit ihnen. Allgemein ist alles erfrischend sinnlich – es wird gelacht, gekaut, geschwitzt, geschluckt, gewälzt, gekommen, gespritzt. Untermauert wird das alles vom tollen Produktionsdesign Chloé Cambournacs.
Dass der Friede nicht lange halten kann, verrät schon die erste Sequenz, eine Hommage an einen bekannten Suspense-Klassiker, wenn nicht gar eine Kopie: Die Kamera blickt wortwörtlich auf ein Fenster zum Hof (1954). Anders als in Hitchcocks Film schaut sie jedoch nicht aus der Ferne auf die gegenüberliegende Fassade. Kamerafrau Evgenia Alexandrova lässt sie losgelöst durch die Luft fliegen, hier und da an den häuslichen Mikrokosmen verweilen und schließlich in eine Wohnung eindringen, in der das sommerliche Idyll plötzlich von einem Gewaltakt durchbrochen wird. Die misshandelte Nadia (Nadège Beausson-Diagne) greift plötzlich nach einer Gartenschaufel und erschlägt damit ihren prügelnden Mann. Eine beeindruckende Sequenz, die lustvolle Comedy mit viszeraler Brutalität verbindet - und dem Publikum Versprechen macht, die der Film nicht hält.
Jede Geste zu groß

Das beginnt damit, dass Nadia sowie ihr Befreiungsschlag unmittelbar danach keine Rolle mehr spielen. Stattdessen konzentriert sich der Konflikt ausschließlich auf die junge, gutaussehende Frauen-WG. Hier entdeckt die schüchterne Nicole bald den sexy Fotografen Magnani (Lucas Bravo), der in der Wohnung gegenüber eingezogen ist. Während der Schönling gerne beim Rauchen am Fenster seinen steinharten Sixpack präsentiert, werden Blicke ausgetauscht, Erwartungen wachsen, bis schließlich ein verschwitzter Abend die drei Frauen auf einen Nachttrunk in Magnanis Wohnung treibt... und ein blutiges Ende nimmt. Was dann? Nun, die Frauen ziehen allein los, um die Narben des Abends zu verarbeiten, und nehmen in dem Zuge jegliches Momentum mit sich.
Leider bekommt Merlants Horror-Komödie ab dem zweiten Akt eine dramatische Schwere, von der sie sich nicht mehr recht erholen will. Emilie Blichfeldts The Ugly Stepsister (2025) ist zum Beispiel ein solcher tonaler Spagat großartig gelungen, Merlant hingegen schafft es nicht, die Emotionen ausreichend auszutarieren. Das Drehbuch schrieb sie zusammen mit Celine Sciamma, wobei allerdings nicht klar ist, in welchem Stadium Sciamma einstieg oder welche Segmente ihr zuzuschreiben sind. Auf Papier funktioniert tatsächlich vieles sehr gut, doch in der Umsetzung will zu vieles einfach nicht so ganz funktionieren. In einer Szene rauchen zum Beispiel Ruby und Elise zusammen einen Joint, um ihre panischen Herzen zu beruhigen. Im Rausch beginnen sie, den Balkon um sich herum zu betasten, gegenseitig die Körperteile der anderen zu benennen – das ist deine Nase, das ist dein Kinn – und schließlich masturbieren sie mit den Armlehnen des Gartenstuhls. Auf Papier ist das eine schöne Szene – zwei verstörte Frauen, die wieder einen Zugang zu ihren Körpern und ihrer Lust finden. Doch diese Essenz geht in der Adaption verloren. Jede Geste ist irgendwie zu groß, zu performativ – als würde sie nicht aus den Figuren heraus, sondern für die Kamera ausgeführt. Stets in der Absicht, eine Reaktion hervorzurufen.
Der Kern des Problems ist, dass Balconettes größtenteils wirkungsorientiert arbeitet. Er möchte provozieren, doch diese Provokationen geschehen auf Kosten der emotionalen Wahrhaftigkeit – vor allem, wenn die Figuren dazu gezwungen sind, haarsträubende Aktionen durchzuführen, die sich nicht wirklich aus ihrer Persönlichkeit erklären lassen. In diesen Momenten wird Balconettes zu einer Aneinanderreihung von Posen, mehr Edgelord-Phantasie als Genrespiel. Es gibt immer wieder tolle Momente, wie die vielseits gelobte Szene mit Eloíse beim Gynäkologen, aber diese werden von den sie umgebenden Schockfaktoren verschluckt.
Drei Filme in einem

Im Grunde besteht Balconettes aus drei Filmen, die mit etwas mehr Fokus und Sensibilität allesamt sehenswert wären: erstens eine abgedrehte Screwballkomödie, in der drei Freundinnen eine Leiche beseitigen müssen. Zweitens ein Geister-Drama, in dem Nicole mit dem Geist eines toten Vergewaltigers streitet – eine spannende Prämisse, die leider an ihrer Plakativität scheitert. Und drittens ist Balconettes ein augenzwinkernder Appell zum Androzid, also zur gezielten Tötung von Männern, was als Prämisse für einen Film eigentlich ziemlich dufte ist. Balconettes behandelt ja mit großer Hingabe sexuelle Gewalt und dessen psychischen Folgen. Nur ist eben keiner seiner zahlreichen Einfälle ausgegoren genug, um dieses Thema zu tragen. Letztlich teilt diese Rezension die Meinung einer Userin auf Letterboxd: „Noémie, I see you. It's not giving what you think it is, but I see you and I love you.“
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