Suzhou River – Kritik

MUBI: Hitchcock-Hommage mit Wong-Kar-Wai-Vibes. Das formverspielte Neo-Noir-Märchen Suzhou River (2000) über zwei unglückliche Liebesgeschichten in Shanghai ist mehr als die Summe seiner Referenzen.

Die formale Brillanz von Lou Yes Film offenbart sich bereits in der ersten Szene, die, für sich genommen, schon als kurzer Essayfilm funktionieren würde. Wir schippern auf dem dreckigsten Fluss Chinas, dem titelgebenden Suzhou River, durch Shanghai und werfen Blicke auf Ufer, Brücken und Menschen. Nicht das hochglanzpolierte Wolkenkratzer-Shanghai breitet sich vor unseren Augen aus. Statt sich spiegelnder Wolken auf riesengroßen Fensterscheiben prägen Beton, Stahl und halb abgerissene Häuser die Szenerie. Wir befinden uns in der industriellen Peripherie der Metropole.

Die Kamera lügt nicht!

Die Stimme aus dem Off ist ein Ich-Erzähler, der den Fluss entlangfährt und fotografiert. Er erzählt von Meerjungfrauen und Selbstmörderinnen, von Menschen, die am, vom und mit dem Fluss leben. Wir erkennen wenig später, dass es sein Blick ist, den wir teilen. Der Mann, durch dessen Augen wir den Film erfahren, arbeitet als Auftragsvideograf. Er sprüht seine Pager-Nummer auf Hauswände und verspricht, alles zu filmen, was die Kundschaft von ihm verlangt. Nur solle sich hinterher niemand über das Ergebnis beschweren, denn die Kamera lüge nicht.

Lou Yes Film fordert diese Behauptung des Erzählers direkt heraus. Es scheint nämlich so, als ob die Kamera nichts anderes tut, als zu lügen. Zumindest manipuliert und subjektiviert sie das, was gemeint ist, wenn von physischer Realität gesprochen wird. Der essayhafte Einstieg in die Geschichte macht das bereits anschaulich. Denn welches Stilmittel würde sich besser eignen, um den objektiven Wahrheitsgehalt von Bildern anzuzweifeln, als die subjektive Kamera? Und wenn Jump Cuts die Szenen und Begegnungen nicht nur selektiv abkürzen, sondern auch rhythmisieren, scheint klar zu sein, dass es dem Film weniger um das „Was“ als um das „Wie“ geht. Der Soundteppich aus Streichmusik und zur Peripherie passenden Industrial-Sounds und auch die Überblendungen, Doppelbelichtungen und die selten ruhende Handkamera tun ihr Übriges. Die Form übersteigt den Plot an Geltungsdrang, was natürlich nicht bedeutet, dass es nichts zu sagen gibt. Der Fluss als nihilistische Metapher für das Leben wird den Film durchziehen wie der Suzhou River Chinas größte Stadt.

Traumwandlerische Annäherung

Zwei unglückliche Liebesgeschichten bilden den Plot. Der Videograf (Hua Zhongkai) verliebt sich in Meimei (Zhou Xun), die in einer zwielichtigen Bar für Geld im Meerjungfrauenkostüm posiert. Durch sie erfährt er von Mardar (Jia Hongsheng), der sein Geld als Motorradkurier verdient. Irgendwann transportiert er statt einem Päckchen eine Frau namens Moudan (wieder Zhou Xun in einer fantastischen Doppelrolle). Auch sie verlieben sich, und es ist die zentrale Tragödie des Films, dass sich der Liebhaber als Entführer entpuppen wird. Ein drastischer Rollenkonflikt, der Moudan dazu verleitet, in den Suzhou River zu springen. Acht Jahre später trifft der gerade aus der Haft entlassene Mardar auf Meimei, die der in den Fluss gesprungenen Moudan zum Verwechseln ähnlichsieht. Es entspinnt sich eine traumwandlerische Annäherung der beiden, die Erinnerungen an Alfred Hitchcocks Vertigo weckt. Die Hommage ist so offensichtlich wie die gravierenden Unterschiede zwischen den Regisseuren.

Hitchcock ist wie Ye ein Formalist, aber immer bemüht, dem Publikum die Form nicht auf die Nase zu binden. Seine stilistischen Überlegungen haben eine maximal intensive Sogwirkung zum Ziel und wollen, wie auch bei Zaubertricks üblich, die Prozedur dahinter am liebsten verschleiern. Ganz oben auf der Agenda steht, das Publikum mitzureißen, zu unterhalten und zu bewegen. Niemand soll sich Gedanken darüber machen, wieso sich hier für diese Einstellung und dort für jene Perspektive entschieden wurde. Suzhou River schreit uns seine Künstlichkeit dagegen förmlich ins Gesicht, es fehlt nicht mehr viel zum Experimentalfilm. Was nicht heißen soll, dass es an Unterhaltung mangelt. Die grobkörnigen 16-mm-Bilder, die Filmmusik und die Atmosphäre, die von Elementen des Noirs ebenso lebt wie von seinem Märchencharakter, haben eine starke Verführungskraft.

Den Fortschrittsfetisch infrage stellen

Die Hoffnungslosigkeit, die uns am Ende entgegenschlägt, und die unattraktive Inszenierung Shanghais haben Lou Ye ein zweijähriges Berufsverbot beschert. Außerdem grenzen diese Elemente Suzhou River von denen Wong Kar-Wais ab, mit denen er oft verglichen wird. Der im gleichen Jahr erschienene In the Mood for Love etwa handelt ebenfalls von Verliebten, die aufgrund äußerer Gegebenheiten einfach nicht zusammenfinden wollen. Nur sind die Vorzeichen, unter denen die Liebe nicht glücken will, andere. In Wong Kar-Wais Film steht außer Frage, dass die zwei Figuren beinahe schicksalhaft füreinander bestimmt sind, dass sie eigentlich zusammen sein müssten. Beziehungen und Zukunftsvisionen stehen in Lou Yes Film von Haus aus unter schlechtem Stern und sind mehr von Obsession als von Liebe auf Augenhöhe geprägt. Naive Romantik, die bei Wong immer nah am Kitsch wandert, schimmert zwar in den Dialogen durch, doch die Entwicklungen im Film werden sie stets als illusorisch entlarven. Der Nihilismus von Suzhou River kann letztlich auch als subtile Infragestellung des Fortschrittsfetischs und des sich hinter dem diktatorischen Kommunismus versteckenden Kapitalismus Chinas gedeutet werden.

So viel ist sicher: Am Ende scheint in Lou Yes Film alle Mühe sinnlos gewesen zu sein. Niemand profitiert vom Entführungsverbrechen, keine Liebesbeziehung nimmt ein Happy End, und die Suche nach der in den Fluss gesprungenen Meimei endet im Tod. Zwei Leichen treten in den Naturkreislauf ein, lösen sich auf, werden eins mit ihrer Umgebung. So wie es der Suzhou River tun wird, nachdem er sich irgendwann im Meer verloren hat.

Den Film kann man bei MUBI streamen.

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