Sorry Angel – Kritik

VoD: Solange wir noch rauchen.. Christophe Honoré erzählt in Sorry Angel von zwei alltagsgefüllten Leben – und spinnt aus ihnen eine Liebesgeschichte, die schon war, bevor sie beginnt.

Immerzu raucht Jacques (Pierre Deladonchamps) in diesem Film. Auf Spaziergängen. Auf dem Motorrad. Am Telefon, wenn er für seine 13 Jahre jüngere Liebschaft Arthur (Vincent Lacoste) den Archetyp des blonden Jünglings in vier literaturhistorisch relevante Kategorien einteilt. Und beim Arzt, während er sich die jüngsten Episoden der eigenen Verfallsgeschichte anhört. Es sind die 1990er, die erste Dekade nach AIDS. Der Ausnahmezustand ist zum Alltag geronnen, wird nüchtern und professionell verwaltet, zumindest wenn man jemand ist wie Jacques, zwar notorisch pleite, aber Schriftsteller und Bildungsbürger. Der Sex hat seine Unschuld verloren, es wird viel an Kondomen genestelt in diesem Film. Eine routinierte Expertise im Abschiednehmen ist allerorts erworben, die Stimme von Ex-Freund Marco (Thomas Gonzalez), die vom Anrufbeantworter über einen sich verschlechternden Zustand berichtet, erschüttert Jacques und seinen Nachbarn und besten Freund Mathieu (Denis Podalydès) weniger, als es sie abwägen lässt, ob Jacques ihn noch einmal bei sich aufnehmen sollte oder lieber nicht. „Es ist zu spät, um jung zu sterben“, sagt dieser Marco später. Doch alt werden ist auch nicht mehr drin. In diesem Limbo bewegt sich Christophe Honorés Sorry Angel.

Freiwilliges Bindungsverbot

Aber Jacques ist kein bitterer Todgeweihter. Er lebt und lacht und schreibt und kümmert sich um sterbende Freunde. In einer wunderschönen Sequenz holt er den kaum noch bewegungsfähigen Marco zu sich in die Badewanne, und man lässt in inniger Umarmung die frühere Beziehung Revue passieren, lacht über das, was vor ein paar Jahren der ganze Ernst des Lebens schien. Jacques hat Kraft für all das, weil er sein System morgens nur noch im abgesicherten Modus hochfährt. Er flirtet, nimmt aber nicht mit nach Hause. Weniger Bindungsangst als selbst auferlegtes Bindungsverbot, und so in etwa warnt er auch Arthur, an ihrem ersten gemeinsamen Abend in Rennes: Da darf nichts Großes mehr kommen. Und dann spricht er, ganz der Schriftsteller, von einer diffusen Ahnung, dass da noch ein zweites Leben wartet, eines, in dem er seine nächtlichen Streifzüge mit größerem Selbstbewusstsein antreten wird.

Jede Menge Orbit

Die sich anbahnende Liebe zwischen Jacques und Arthur ist eine Kinogeburt: Sie beginnt bei Jane Campions Piano (1993), in einem Kino in Rennes, in das der Pariser auf Lesereise geflüchtet ist, um nicht zu viel Zeit mit seinen bretonischen Gastgebern verbringen zu müssen. Später wird sie illustriert von Postern in den jeweiligen Apartments, Fassbinder und Warhol bei Jacques, Carax bei Arthur. Das Schönste an Sorry Angel aber ist, dass diese Kinogeburt in keinem Vakuum stattfindet, sondern in einem Saal voller Nebenfiguren; dass die Liebesgeschichte dem Film nur eine sehr lose Struktur andient, zwar ein Zentrum bildet, aber ein kleines, in dessen Orbit noch jede Menge Platz ist. Sowohl Jacques als auch Arthur bringen einen ganzen Alltag und ein ganzes Umfeld mit.

Der 35-jährige Pariser hat nicht nur Ex-Freunde und Mathieu, sondern auch einen kleinen Sohn, dessen Aufmerksamkeit er sich freundschaftlich mit der zugehörigen Mutter teilt. Der 22-jährige Bretone hat eine Clique und eine Art Freundin, reißt einmal einen lockigen Tramper auf, der fortan mit im Bild rumhängt. Sorry Angel wandert zwischen seinen Protagonisten hin und her, ist nicht Chronik einer Liebe, sondern Begleitung zweier Leben in ihren jeweiligen Aktionsradien mit beiläufiger Vermessung der Schnittmenge. Für das Sterben in Paris interessiert sich Honoré dabei ebenso wie für das Leben in Rennes, denn hier wie dort wird verabschiedet. Als Arthur irgendwann entscheidet, sein Glück in Paris zu versuchen, trifft man sich noch einmal nachts am alten Friedhof, und dieser Abschied von Freunden und Jugend und der Kleinstadt ist kaum weniger traurig als die endgültigen.

Rauchfreies Schlussbild

Alter, Herkunft, Lebensaussichten, alles ist Fernbeziehung zwischen Jacques und Arthur, nur das Rauchen nicht. Jacques raucht, weil Zigaretten im abgesicherten Modus ein hohes Gut sind, Artefakte der reinen Gegenwart, die nicht verpflichten und niemanden einbeziehen. Dass das Rauchen tötet, steht mittlerweile auf den Packungen selbst. Wenn man schon getötet ist, das betont dieser Film immer wieder aufs Neue, ist es lebensverlängernde Maßnahme. Arthur dagegen raucht, weil es dazugehört, weil er es eh kann. Während Jacques dem Ende entgegen qualmt, raucht der andere so vor sich hin, in aufgeregter Spannung auf alles, was da noch kommen mag.

Es ist die perfekte Asymmetrie für einen großen Liebesfilm: Ein Leben in der Verlängerung trifft auf eines, das sich gerade erst anbahnt, und man begegnet sich in der Vorfreude auf etwas, das nicht kommen wird. Mit seinen flüchtigen Bewegungen kann das Kino ja eh nicht von geglückter Liebe erzählen, weiß höchstens von der Erinnerung an und von der Hoffnung auf sie. Exakt zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Sorry Angel, bis zur tieftraurigen Schlusssequenz, in der ein Raucher einen Fahrstuhl hinabfährt, während ein anderer in einer feschen Lederjacke neben einer Telefonzelle sitzt und auf einen Anruf wartet, der nicht kommen wird.

Der Film steht bis 30.12.2021 in der Arte-Mediathek.

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