Sehnsucht in Sangerhausen – Kritik
Julian Radlmaiers vergnügliche Komödie Sehnsucht in Sangerhausen geht in der ostdeutschen Provinz auf Geisterjagd und findet allerlei Absurditäten – von nudistischen Wanderern mit Akkordeon bis zu einem koreanischen Touristenführer, der nicht gern abbiegt.

Sangerhausen ist ein Ort, an dem es nicht schwerfällt, Sehnsucht nach Veränderung zu empfinden. Die Stadt hat mit einer schrumpfenden Einwohnerzahl zu kämpfen, leidet unter hoher Arbeitslosigkeit – und die letzte Stadtrats-Wahl hat die AfD gewonnen. Okay, es gibt dort die größte Rosensammlung der Welt, ein touristisch erschlossenes Bergwerk und ein Museum mit Mammutskelett. Das lokale Tourismuszentrum verweist noch auf das Kyffhäuser-Denkmal und die Barbarossa-Höhle. Doch diese beiden aus Heines Wintermärchen bekannten Orte sind ehrlich gesagt näher am benachbarten, ebenfalls nicht besonders besonderen Sondershausen (wo der Autor dieses Textes vor 25 Jahren seine erste Filmkritik geschrieben hat). Um bei Heine zu bleiben: Sangerhausen ist eine Kleinstadt, die am schönsten ist, „wenn man sie mit dem Rücken ansieht“ – also der ideale Ort für den magischen Realismus von Regisseur Julian Radlmaier, der in der Ödnis von Sachsen-Anhalt eine kuriose Gespensterjagd veranstaltet.
Der in vier Episoden aufgeteilte Plot von Sehnsucht in Sangerhausen beginnt zur Zeit der französischen Revolution: Mit betont amateurhaften Zooms zeigt uns der Film das Leben der Dienstmagd Lotte (Paula Schindler), die am Hofe irgendeines Grafen täglich den Nachttopf des Dichters Novalis leeren muss. Ein harter Schnitt führt uns ins Jetzt und in ein Möbelhaus, das von Ursula (Clara Schwinning) geputzt wird, die nebenbei noch als Kellnerin jobbt und das Leben, das ihr passiert ist, in drei Sätzen zusammenfassen kann. Schließlich kommt noch die junge Iranerin Neda (Maral Keshavarz) hinzu, die einst bei Kiarostami studiert hat und nun – mit gebrochenem Arm – möglichst günstige deutsche Städte bereist, um mit YouTube-Videos zur Travel-Influencerin zu avancieren. Ein blauer, möglicherweise magischer Stein führt als MacGuffin durch die Geschichten – und auch sonst reimen sich die Episoden immer wieder, indem kleine Elemente aus der einen Epoche in der jeweils anderen wieder auftauchen.
Knistern statt Kommunismus

Am meisten Raum erhält der Erzählstrang rund um Ursula: Als sie eine aus Berlin angereiste Band trifft, ist es, als hätte sie einen kleinen Spalt entdeckt, durch den sie vielleicht doch noch ihrem bisherigen Leben entfliehen kann. Radlmaier lässt die verheiratete Frau mit einer neuen Bekanntschaft durch die Stadt spazieren und beschwört das Knistern eines ersten Kennenlernens herauf, bei dem die Chemie sofort stimmt. Im Hintergrund dräut dabei stets der künstliche Hügel über dem Bergwerk, im Vordergrund sehen wir die Straße der Volkssolidarität und ein paar sowjetische Denkmäler – und damit deutlich weniger Marxismus-Anspielungen als in Radlmaiers wunderbar abseitigen Komödien Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes (2017) und Blutsauger (2021).
Ab und zu entsteht in seinem neuen Film allerdings der unangenehme Eindruck, als blicke der Regisseur auf die Kleinstadt-Bewohner herab: Ursula ist sofort extrem fasziniert von den Musikern aus der Großstadt. Diverse Nebenfiguren aus Sangerhausen hören einfältige Schlagermusik, sind fettleibig und unkultiviert: Als einmal Radlmaiers Blutsauger im Kino läuft, ist der Saal komplett leer. Vor allem aber stellt der Plot immer und immer wieder die (vermeintliche?) Ausländerfeindlichkeit der Sangerhäuser aus. Das wirkt auch nach dem vierten oder fünften Mal nicht besonders erhellend und bedient wohl vor allem das wohlige Gefühl, sich selbst als Teil der aufgeklärten, urbanen Kulturelite zu definieren.
Ein Koreaner in Sachsen-Anhalt

Am stärksten ist der Film in seinen absurden Abschweifungen, wenn etwa plötzlich röhrende Kamele über die Wiesen von Sangerhausen trampeln, nudistische Wanderer mit Akkordeon durchs Mittelgebirge streifen, Menschen laut über den Buchstaben U nachdenken oder eine Frau beim Kaffeetrinken die gesammelten Nierensteine eines Typen auspackt, in den sie einst verknallt war. Genau diese verspielte Fabulierlust ist es auch, die Ursula und Neda letztlich auf eine Gespensterjagd durch den Südharz führt.
Geleitet wird diese übersinnliche Exkursion von einem erfolglosen koreanischen Touristenführer namens Sung-Nam – verkörpert von Kyung-Taek Lie, der bei Radlmaier regelmäßig skurrile Nebenfiguren spielt. Sung-Nams Kommentare sind das wohl größte Highlight von Sehnsucht in Sangerhausen: Wenn er in der letzten Episode mit sanfter Stimme und grammatikalisch nahezu perfektem, aber sehr gestelztem Deutsch erklärt, warum er seinen Reiseplan auf keinen Fall an die Wünsche seiner Gäste anpassen kann („Da muss man zu oft abbiegen“), ist das genau jener trockene Dialogwitz, der schon Radlmaiers vorherige Filme ausgezeichnet hat. Sobald man Sung-Nam nach 86 Minuten Laufzeit in seinem Kleinbus schlafen sieht, sollte man übrigens langsam die Sachen packen und gen Kino-Ausgang schleichen – sonst hat man womöglich tagelang einen Ohrwurm von jenem ebenso furchtbaren wie furchtbar eingängigen Heimatschlager, den Radlmaier im Prolog kurz anspielt, der seine volle Wucht aber erst im Abspann entfaltet.
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