Phantom – Kritik
Neu auf DVD: Im selben Jahr wie Nosferatu drehte F.W. Murnau einen Film über eine Amour fou, die einen kleinen Angestellten Job, Ruf und Freiheit kostet. Statt vor einem Schreckgespenst mit Krallen erstarren die Leute in Phantom vor einer körperlosen Schönheit.

Lya De Puttis Gesicht umgibt Nebel und eine unwirkliche, lockige Perücke. In ein blaues, ätherisches Zwielicht ist es getaucht. Ihre Augen sind geschlossen, das Kinn erhoben. Ein entrücktes, verträumtes Bild. Ob es die reiche Veronika darstellt oder doch ihre mittellose Doppelgängerin Melitta, ist zu erahnen, aber nicht von Belang. Klar ist dagegen, dass Lorenz Lubota (Alfred Abel) von diesem Gesicht besessen ist und alles dafür aufgibt. Und wer will es ihm verübeln, dass er diesem Gesicht willenlos hinterherrennt? Genauer dem geisterhaften Wagen, in dem Veronika in (Tag-)Traumsequenzen davonfährt – handelt es sich doch um das schönste Bild aus Phantom (1922). So schön, dass der Rest dagegen verblasst. Verblassen soll.
Ein Leben, das nach einem Ausbruch schreit

Friedrich Wilhelm Murnaus Film erzählt von einer Amour fou, die einen kleinen Stadtverwaltungsschreiber seinen Job, sein Ruf und seine Freiheit kosten wird. Und ein entscheidendes Charakteristikum teilt sich die Erzählung mit dem deutlich berühmteren Werk Murnaus aus demselben Jahr, Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens. Wieder und wieder zeigen beide Filme Leute, die paralysiert scheinen. Dort ist es ein Schreckgespenst mit Krallen und Schatten, hier eine körperlose Schönheit oder die Besessenheit von ihr, ein Mix aus Lust und Angst, der die Protagonisten zu Salzsäulen erstarren lässt.
Wobei die ätherische Schönheit nicht mal der einzige Erklärungsansatz dafür ist, dass Lorenz entgleisen wird. Im Schatten von Lya De Puttis Gesicht finden sich durchaus rationale Erklärungen. So ist seine Arbeitsstätte von muffigen Schreibtischen bestimmt, die aussehen, als legte die Ödnis selbst eine riesige Staubschicht auf sie. Die dazugehörige preußische Arbeitsmoral ist mittels Uhren und Ordnungshütern wie ein Gefängnis organisiert. Lorenz’ Lebensrealität schreit geradezu nach einem Ausbruchsversuch. In seiner Freizeit flieht er in die Welt der Bücher, der Lyrik und der Träume. Nach dem Aufeinandertreffen mit Veronika folgt der radikale Schnitt: Ohne einen weiteren Gedanken an Familie und Arbeit zu verschwenden, wird er zum Zombie seiner Obsession.

Ohne dass es Lorenz mitbekommen würde, bricht seiner Familie mit ihm zudem das Haupteinkommen weg. Seine Mutter (Frida Richard), die ihre Tochter kurz zuvor noch sehr leidenschaftlich wegen ihres Lebenswandels vor die Tür setzte, ist im Angesicht der drohenden Verarmung zu keiner Handlung mehr fähig. Sichtlich resigniert sie und sieht keinen Ausweg, zetert nur mehr noch, ein Leib aus Leid und Tränen, der weder ein noch aus weiß und deshalb feststeckt. Lorenz’ Bruder Hugo (Hans Heinrich von Twardowski) fehlt von Anbeginn jede Leidenschaft. Ein steinernes Gesicht führt er durch seine kurzen, lethargischen Auftritte.
Kein Anschein von Befreiung

So ist Phantom ein mahnendes Drama über die charakterverderbenden Gefahren einer mondänen Welt. Auch ein sozialdemokratisches, das die drakonischen Bedingungen der Arbeitswelt zeigt, in dem der Schrecken nicht vom Grafen Orlok, sondern von drohender Armut ausgeht. Doch bleiben diese gesellschaftlichen Implikationen lediglich Erscheinungen im Augenwinkel. Stattdessen also immer wieder Menschen in Schockstarre. Verursacht wird Lorenz’ Zustand vor allem durch die Begegnung mit Veronika – ein buchstäbliches Zusammentreffen, wird er doch von ihrer Kutsche angefahren und bleibt erst in der Gosse liegen. Von einem Moment auf den anderen wird er ein anderer Mensch. Der Kopf schlägt gegen Pferd und Straße, was Grund genug für seinen Wahn scheint, der betörende Frauengesichter imaginiert, der für die wenigen expressiven Bilder sorgt und den Großteil des Films in schmerzhafte Passivität versetzt.
Der von seiner Arbeit und Umsicht befreite Lorenz landet auf Partys, bezahlt Frauen für „die Liebe“ und wird schließlich kriminell. Doch nie erscheint es, als wäre er befreit. Weil er keine Ahnung hat, wie er bekommen soll, was er will, folgt er blind ersten Impulsen und zwielichtigen Figuren, wird ein Gefangener seiner Besessenheit. Der Film entwickelt einen regelrechten Fetisch für Auslieferung und Hilflosigkeit.
Haarsträubende Apathie

Die Tanz- und Alkoholszenen, die Kriminalität und die Leidenschaft verlaufen ohne Anzeichen eines erzählerischen oder erzählten Rauschs. Die Innenansichten in unseren hypnotisiert scheinenden Buchhalter sind zwar das Sehenswerteste des Films, aber sie bleiben kurz und auf Irrationales beschränkt. Murnaus Film ist deshalb eine ziemlich bittere Seherfahrung, nämlich zuvorderst das nüchterne Dokument einer haarsträubenden Apathie. Weil ohne Erklärung alles so sinnlos wirkt. Weil wir schmerzhaft vorgeführt bekommen, wie sehr wir doch nur Zuschauer vor etwas sind, in das wir höchstens etwas deuten, aber in dem wir niemanden schütteln können.
Am faszinierendsten in diesem ambivalenten Film aber ist Melanie (Aud Egede-Nissen), besagte vor die Tür gesetzte Tochter, die den moralischen Ansprüchen ihrer Zeit nicht genügt. Sie ist zwar eine von der Gesellschaft geächtete, aber eine nichtsdestotrotz lustvolle Figur, die in diesem Film der internalisierten preußischen Moral, bei der entweder gehorcht wird oder das Grauen auf einen wartet, das Heft in die eigene Hand nimmt. Die nicht wie das Reh im Scheinwerferlicht erstarrt, sondern einfach im Dreck lebt und genießt. Die frei ist und von keinem Phantom bedroht scheint. Und wie es sich für diesen Film gehört, bleibt auch sie nur im Augenwinkel.
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