Our Last Day – Kritik

Lange bevor Cheang Pou-soi zum gefeierten Blockbuster-Regisseur in China wurde, hat er in Hongkong Low-Budget-Filme für den Videomarkt inszeniert. Our Last Day (1999) wird im Innersten von einer Jugendliebe zusammengehalten, während er sich im Äußersten zu einem nervenzerfetzenden Horrorfilm entwickelt.

Sie, Mandy, liegt auf dem Bett, er, Wah, darunter. Er hat ein Radio bei sich, steckt sich den einen Kopfhörer ins Ohr und reicht ihr den anderen. Gemeinsam hören das Mädchen und der Junge ein Call-in-Programm, in dem zumeist ebenfalls junge Leute über Angelegenheiten des Herzens sprechen. Diese Sendung hatte sie bereits verbunden, als sie noch nichts voneinander wussten. Damals lagen sie getrennt voneinander in ihren Betten und lauschten doch schon gemeinsam den fremden Schicksalen. Jetzt haben Mandy und Wah zusammengefunden, oder jedenfalls fast: Schließlich befindet sich immer noch die Matratze zwischen ihnen. Aber vielleicht ist es auch gerade diese Barriere, die es ihnen ermöglicht, einander als ihresgleichen zu erkennen.

Hundert Tage bis zum Kontakt

Zum ersten Mal treffen sie sich in der Bahn, zwischen Pendlern, unverbundenen Menschen, die ihren eigenen Gedanken nachhängen. Wah liest stehend ein Comic, als ihm jemand auf die Schulter klopft. Er dreht sich um und sieht ein Mädchen, das ihn anspricht, hört aber zunächst nur die Musik aus seinem Kopfhörer: „I would swim all day in those blue eyes / If you let me.“ Das Mädchen, das vor ihm steht, hat keine blauen Augen, und auch sonst passt das Lied, das im Folgenden immer wieder leitmotivartig aufgegriffen wird, nicht ganz in den Film, es hat etwas Aufdringliches, unangemessen Intimisierendes. „I could float all day in the waves of your hair / If you let me.“Sie will ihn eigentlich nur darauf aufmerksam machen, dass er sein Portemonnaie verloren hat. Er aber kann sie im Folgenden nicht vergessen und nimmt sich vor, sie innerhalb von hundert Tagen kennenzulernen.

Tag für Tag fahren sie gemeinsam Bahn, aber natürlich kommt es – das ist ein ehernes Gesetz des Liebesfilms und vielleicht auch ein Gesetz der Liebe selbst, die ja immer etwas von Selbstdramatisierung hat – erst ganz am Ende dieser Frist, am hundertsten Tag, zur erfolgreichen Kontaktaufnahme. Cheang Pou-sois Our Last Day interessiert sich allerdings gar nicht für die Latenz, für das andauernde Einanderverfehlen, sondern löst die lineare Struktur des Wartens in der Zeitlosigkeit jugendlicher Gefühlswelten auf. Der erste Tag ist der hundertste, und der hundertste ist der erste, in jedem Blick ist jeder vorherige mitenthalten, und jeder neue Satz, den die Frau an dich richtet, ist ein neuer erster Satz. Die freie, assoziativ mäandernde Montage rekonstruiert nicht den Beginn einer Beziehung, sondern organisiert sich um Erfahrungssplitter, die zeitlich und auch hierarchisch nicht geordnet sind, die sich zumindest vorläufig nicht zu etwas derart Stabilem wie einer Beziehung zusammenfügen wollen: wieder und wieder die Radiosendung, wieder und wieder das Portemonnaie, oder auch jener Moment, in dem sie im Bus erschöpft ihren Kopf auf meine Schulter legt.

Innerer und äußerer Film

Aber was hat es mit der Szene auf sich, in der Mandy und Wah vor einem Bett stehen, in dem eine tote Frau liegt? Oder mit der, in der Wah Mandy davon abhält, von einer Mauer in die Tiefe zu springen? Es scheint ein gewisses Missverhältnis zwischen innerem und äußerem Erleben zu geben: Einerseits sehen wir, wie sich zwei Menschen vorsichtig und spielerisch einander annähern, und andererseits werden die beiden in Ereignisse verwickelt, die keineswegs spielerischen Charakter haben, sondern ganz im Gegenteil ziemlich handfest sind.

In der ersten Hälfte dominiert das innere Erleben, der innere Film. Liebe und Musik verflüssigen den Raum ebenso wie die Zeit, zumeist befinden wir uns unter freiem Himmel. Die Welt als Möglichkeit. Dann jedoch zieht sich der Film zusammen, auf eine Nacht und eine Wohnung, ein Zimmer, einen Schrank. Mandys Schrank. Ihre Familie ist vom chinesischen Festland nach Hongkong gezogen, das Geld ist knapp, der Vater ist ein alter, harter, schweigsamer Mann; dass ihre viel jüngere Mutter ihn liebt, kann sich Mandy nicht vorstellen. Jetzt, sagt Mandy, und das ist der Schock, der den Film komplett transformiert, hat er sie umgebracht. Ihre Leiche liegt im Zimmer nebenan, und du, Wah, der du mir bis hierher gefolgt bist, musst dich in meinem Schrank verstecken.

Im Schrank hat sich Mandy, das lernen wir mit Wah, ihre eigene Welt eingerichtet, ein Refugium geliebter Fotografien und höchstpersönlicher Tagebuchgedanken. Hier werden Wahs Projektionen, seine Liebesfantasien, mit einer ganz anderen, komplexen Innerlichkeit konfrontiert, einer Gefühlswelt, die man der schüchternen, leisen, gelegentlich etwas patzigen Mandy keineswegs ansieht. Zugleich spitzt sich außerhalb des Schranks die Lage zu, und Our Last Day wird plötzlich zu einem klaustrophobischen, nervenzerfetzenden Horrorfilm. Ein Fleischermesser geht um. Sind wir jetzt am anderen, am realen Pol der Erzählung angelangt? So einfach ist die Sache, lernen wir bald, auch wieder nicht, die Grenzen zwischen innerem und äußerem Erleben bleiben fluide, auch im Schrank, vielleicht gerade da.

Brüchige Technik, verletzliche Liebe

So ganz zu fassen bekommt man diesen faszinierenden Film, der sich immer wieder selbst zu überrumpeln scheint, bis zum Ende nicht. Cheang Pou-soi, heute ein erfolgreicher Genre- und Blockbuster-Regisseur in China, hat Our Last Day ganz am Anfang seiner Karriere gedreht, im Jahr 1999. Die Filmindustrie seiner Heimatstadt Hongkong war in der Folge der chinesischen Machtübernahme 1997 in eine schwere Krise geraten. Da kaum noch Geld für aufwändige Projekte vorhanden war, entstand Ende der 1990er Jahre eine Low-Budget-Videofilmindustrie. Tatsächlich ist Our Last Day deutlich erkennbar eine Billigproduktion. Grobauflösende Texturen, flächige, undifferenzierte Videofarben (die leider auch große Teile der Untertitelung unlesbar machen und dadurch ganze Nebenhandlungen verschlucken), und auch der aufdringliche Musikeinsatz ist möglicherweise weniger auf ein künstlerisches Konzept denn auf mangelhaftes Soundequipment zurückzuführen. Dass die technischen Probleme dem Film nichts anhaben können wäre zu viel gesagt; vieles hätte ich gerne klarer, prägnanter, kraftvoller gesehen. Aber gelegentlich verbindet sich die brüchige Oberfläche auf berückende Art mit der Verletzlichkeit einer jungen Liebe, die in ein weltverschlingendes Melodrama überführt wird, noch bevor sie auch nur zu einem Begriff ihrer selbst finden kann.


Den Film kann man sich kostenlos auf YouTube ansehen.

 

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