An einem schönen Morgen – Kritik

VoD: In ihrem neuen Film speist Mia Hansen-Løve behutsam ein paar Liebes- und Lebensdramen in den eh schon überfüllten Alltag einer Dolmetscherin ein. An einem schönen Morgen hat deshalb weder Zeit für Schwarzblenden noch für Establishing Shots. 

Sandra (Léa Seydoux) hat ein stressiges Berufsleben als Dolmetscherin, und hantiert nebenbei mit drei Generationen zugleich. Alle sind sie unselbstständig: Der senile Vater Georg (Pascal Greggory), einst ein angesehener Professor, vergisst und verlegt immer mehr, baut sichtlich ab, wird nicht mehr lange zu Hause bleiben können; mit einem alten Freund scheint auf einmal mehr zu gehen als nur Freundschaft, aber Clément (Melvil Poupaud) ist verheiratet und hat einen Sohn und weiß deshalb irgendwie auch nicht so richtig, generiert mixed messages am laufenden Band, während bei Sandra selbst seit einer Trennung vor fünf Jahren gar nichts mehr lief; und die eigene Tochter Linn (Camille Leban Martins) hat ohnehin ihren eigenen Kopf, während sie von Sandra ganz allein erzogen werden muss.

Gesprengte Kausalketten

An einem schönen Morgen ist selbst ein Film am laufenden Band, die Gleichzeitigkeit der Entwicklungen übersetzt sich in jene fließende Montage, die man von Mia Hansen-Løve kennt: Der erste richtige Kuss nach fünf Jahren ist aufregend, aber weil man dem Kind versprochen hat, beim Fechttraining zuzugucken, ist für die Schwarzblende, die dieser Moment eigentlich verdient hätte, keine Zeit, das Band läuft weiter. Wo ähnlich angelegte Filme die Dinge aufeinander aufbauen, der Handlung Kausalketten anlegen, fließt hier alles zusammen, ist der Alltag schon überfordernd, zu viel.

Denn Sandra ist, anders als Sylvia in Der Vater meiner Kinder (Le père de mes enfants, 2009) oder Nathalie in Alles was kommt (L’avenir, 2016), nicht mit einem plötzlichen, unvorhergesehen Ereignis konfrontiert, sondern mit separaten Entwicklungen, die sich in ihr Leben einschleichen und allmählich an Bedeutung gewinnen; die immer intensiver gefühlt werden und sich deshalb irgendwann miteinander bekannt machen müssen.

Der Vater kommt von einem Heim ins nächste, Zimmer müssen beguckt, Gespräche geführt werden, vor allem wohin mit diesen ganzen Büchern? Wie häufig bei Hansen-Løve hilft die Jugend, ein paar alte Studis übernehmen die Bibliothek. Überhaupt streckt sich An einem schönen Morgen in alle Richtungen aus: auf allerlei Konferenzen, auf denen Sandra dolmetschen muss; in den Aktivismus ihrer Mutter Françoise (Nicole Garcia), die zur Belustigung der Familie jetzt Teil von „Youth for Climate“ ist; und in die Krankenhausflure dieser Welt, wo überall senile Alte umhergeistern, die in diesem Film niemals nur für ein Phänomen stehen, sondern immer auch für sich.

Das Drama ablaufender Lebenszeit

Wiederum aber niemals ausschließlich für sich: Hansen-Løves Filme sind Ensemblewerke vor allem deshalb, weil Figuren nicht autonom, sondern Knoten in einem Beziehungsgeflecht sind, das auch An einem schönen Morgen nicht kreativ spinnt, sondern in das er sich einfach hineinlegt. Die Verbindungen scheinen immer schon da, noch bevor das durch sie Verbundene existiert. Hansen-Love braucht keine Establishing Shots für ihre Szenen, weil sie gar nicht anders kann, als das Leben, das sie beguckt, als bereits etabliertes zu denken, das weiterläuft, immer weiterläuft. Keine Figur, in der das Drama ablaufender Lebenszeit nicht schon eingerechnet wäre, deshalb berühren diese Filme mich mehr als solche, die für ein ganz bestimmtes Drama erst erfunden wurden.

Toll an diesem Film ist auch, wie Léa Seydoux, so häufig als Chiffre, als Persona, als Mysterium gecastet, hier mühelos eine Charakterstudie trägt. Hansen-Løve macht es ihr leicht, weil sie ihre Geschichten zwar klar um eine meist weibliche Hauptfigur zirkulieren lässt, die Last dieser Geschichten aber auf vielen Schultern verteilt, durch das Beziehungsgeflecht abfedert. Dass die actrice zur reactrice wird, im Unsouveränen agiert, ist so schon in der Poetik der Filme angelegt. Und in ihrer Politik: Auch An einem schönen Morgen ist kein feministisches Pamphlet und beobachtet doch genau, wer hier wem welche Last aufbürdet, wer mir nichts, dir nichts, impulsiv und feige, oder eben senil, agiert, und wer, ganz die Dolmetscherin, darauf besonnen reagieren muss, um das Fließband am Laufen zu halten.

Der Film steht bis zum 13.04.2025 in der ARD-Mediathek.

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