Oktoberfest 1900 – Kritik

VoD: Seltene Inbrunst: Oktoberfest 1900 ist eine drastische Miniserie, die das Abgründige hinter den bürgerlichen Fassaden des Fin de Siècle strahlen und leuchten lässt, bis daraus Asche wird.

Ich habe in den 1980ern mehrere Jahre nachts an der Spültheke einer großen, brummenden Rockdisco gearbeitet und wurde fast wahnsinnig. Es war so ein extremer Druck und Stress, ein forderndes, gedrängtes Chaos. Ich dachte, meine Güte, hier wird eine Situation erzeugt, als wäre man an der Front, als ginge es um Leben und Tod. Und dabei ging es einfach nur darum, Leuten in ihrer Freizeit zum Vergnügen Bier zu verkaufen. Eines Tages wird Blut aus diesen Bierhähnen tropfen, dachte ich, und dann wird man das Fass aufschneiden und meine Leiche darin finden. Die Zeit stand still, ich war in einer Höllenmaschine festgetackert, und wünschte, wie Brechts Seeräuberjenny, etwas würde mich dort wegstehlen. Das verbindet mich mit Oktoberfest 1900. Deshalb wohl nehme ich diese spektakuläre Miniserie so persönlich.

Recherche beim Kamillentee

Jahrhundertwende, München. Der durch ein grauenvolles Kindheitstrauma verwüstete Nürnberger Großbrauereibesitzer Curt Prank (großartig: Mišel Matičević) will den Biermarkt mit einem Auftritt auf dem Oktoberfest entern. Zu diesem Zweck lässt er einigen Bierbudenbesitzern ihre Existenz abkaufen. Wer sich nicht fügen will… der Film erzählt, was dem passiert. (Historisches Vorbild war Georg Lang, Wirt des Nürnberger „Krokodil“; es gibt in der ARD-Mediathek eine Doku darüber, „wie es wirklich war“.)

Ich rechnete mit einem gediegenen, historischen Fernsehmehrteiler. Sie sind manchmal besser als ihr Ruf. Ku'damm ’56 vor allem. Charité. Kundig und liebevoll geschrieben, sehr gute Schauspieler. Interessante Sets und Ausstattungen, die ferne Erinnerungsfetzchen triggern.

Oktoberfest 1900 aber kommt nicht gediegen, sondern laut und flashy rüber, und ich ging auf Distanz. Eine Art Babylon Berlin auf bayrisch, dachte ich (in den war ich gar nicht reingekommen). Ich wurde misstrauisch, störte mich an Anachronismen, unterstellte Effekthascherei, fremdelte mit den neo-expressionistischen, neo-poppigen Stilmitteln, fand die Musik unpassend gemixt: Tom-Waits-Artiges, dann wieder traditioneller bayrischer Harmoniegesang... ich machte mir erstmal einen Kamillentee und guckte in meinen Computer.

Im Web las ich, dass Oktoberfest 1900 eine deutsch-tschechische Koproduktion ist und teilweise in Prag gedreht wurde. Stimmt, einiges, das mich irritierte, kannte ich eigentlich schon aus älteren tschechischen Filmen. Hier kam es nur in einem etwas anderen, neueren Gewand daher, so dass ich es nicht gleich erkannt hatte. Die Teufel aus den Märchen. Das Uralte und Verrückte, das ihnen innewohnt. Der Grusel hinter der Gemütlichkeit. Die schmutzige, bäuerliche Fantasie. Die Unverfrorenheit und Drastik. Plumpsklos, in die man seine Leichen wirft. Schräger Humor. Schäbige, schlammige Kirmesplätze. Krumme und sinistere Typen (toll: Eisi Gulp, Martin Feifel…) Manche Kritiker, so las ich, fühlten sich auch an Macbeth erinnert (viel, viel Blut) oder überhaupt an Shakespeare (burleske Lebendigkeit und unklare Grenzen zu Märchen, Wahn und Traum). Andere sagten Westernschmuddel, Horror, große Oper. Das stimmte alles, wenn ich drüber nachdachte; Oktoberfest 1900 arbeitet mit vielen verschiedenen, heutigen wie alten Mitteln. Und hebt damit in gewisser Weise die Zeit auf. Auch das von einigen kritisierte Stilmittel des rauschhaften Panoptikums, der karussellartigen (Zur-)Schaustellerei passt dazu. Die Vorurteile fielen mir von den Augen. Der Film erwischte mich, und ich war drin.

Das Wogende hinter den Augen

Manche Kritiker hatten gesagt, Oktoberfest 1900 interessiere sich zu wenig für die Zeit, in der er spielt. Aber ich finde das nicht. Seine ästhetisch und chronistisch strengeren Geschwister orientierten sich vielleicht faktengetreuer an der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Aber die Miniserie geht einen anderen Weg. Eine legitime Variante. Sie scheint mir inspiriert von dem zu sein, was die leidenschaftlicheren Strömungen der Kunst und Literatur des Fin de Siècle erzählen. Der frühe Expressionismus und Dekadentismus mit seinem Interesse an dem mit Mythen verschlungenem Unbewussten. Alpträumen, skurrilen Karikaturen und aufgeladenen Bildern von unruhigen Landschaften, Vampiren, fatalen Frauen, dämonisch lockenden Bars, gespenstischen Jahrmärkten. Eine Zeit, die so viel große, dunkelmächtige, spannungsvolle Kunst hervorbrachte (Ensor, Kafka, Mahler, Stuck und so viele andere), kann nicht immer nur so steif gewesen sein wie Historienfilme sie oft abbilden. Es muss etwas Wogendes, Gewaltiges, Abgründiges hinter den Augen und den aufwändigen bürgerlichen Fassaden gewesen sein, im subjektiven Gefühl, das sich Ventile suchte und sie fand. Sonst hätte Freud nichts zu tun gehabt.

Damals schien alles zu expandieren. Menschen, Häuser, die Damen der Gesellschaft, alles in dieser monströs blühenden, großmächtigen, wirtschaftlichen Umbruchszeit takelte sich auf zu einer gruseligen Wucht. Das Junge, weniger Gepanzerte hingegen, die armen wie die reichen Königskinder, wurden von ihren elterlichen oder auch ehemännlichen Herrschern in falsche Leben gezwungen. Umso entfesselter brechen sie hier aus während des Oktoberfestes und gehen berauscht verloren in der Menge. Charlie Chaplins Memoiren oder Henry Kings State Fair (1933) erzählen das auch. Und auch einigen unserer Urgroßeltern wird es nicht anderes ergangen sein. Sonst wären wir vielleicht nicht auf der Welt.

Sie handeln überschwänglich, überreizt. Machen Sex und bauen Scheiße, werfen sich aus dem Fenster, schlagen sich, prostituieren sich, kommen ins Irrenhaus. Oktoberfest 1900 nimmt diesen Rummel wie durch die Augen eines unsichtbaren Besuchers auf, der selbst die ganze Zeit kaum schläft. (Ich habe Anfang dieses Jahres auf dem Hofbauerkongress in Nürnberg den Film eines jungen Mannes gesehen, Johannes Lehnen: Malle. Er filmte am Ballermann seine Freunde, ganz mit ihnen eingetaucht wie ein Cinema-Verité-Ethnologe, beim Saufen und allem, was man dann so macht. Der hatte ein ganz ähnliches Delirium in den Augen.)

Es gibt viele mäandernde, rote Erzählungsfäden und Geschichten, die an verschiedenen Orten brodeln und aufkochen. Überall läuft gerade was. Es ist krass, finster und verrückt, sexuell und blutig. Politik, Feminismus, Arbeiterbewegung, Streiks, Rassismus, Elend, Angst, Tragödie, alles drin.

Seltene Inbrunst

Da ist eine Völkerschau mit martialisch kostümierten Samoanern, die während der tobenden Tage an der Isar campen dürfen/müssen, was viele Münchner ängstigt. Ein Kinozelt mit Méliès’ Die Reise zum Mond (der strenggenommen wohl erst um 1902 zur Welt kam). Ein heimlich gedrehter Schwulenporno, der einen intriganten Skandal verursachen soll. Es gibt eine unbändige Kellnerin (sehr schön: Brigitte Hobmeier), die sich mit stupender List und viel Courage durchschlägt. Es gibt einen schüchtern homosexuellen, künstlerisch veranlagten Bierbrauersohn (Markus Krojer), der respektlose Karikaturen von Größen des öffentlichen Lebens zeichnet und den Anschluss an die Jugendstil-Satiriker des „Simplicissimus“ und die laszive Künstlerszene der Münchner Sezession um Franz von Stuck sucht. Es gibt einen elektrisierend fiesen, diabolisch narzisstischen Verführer (Maximilian Brückner). Und es gibt die tief, tief schwarze Witwe eines Bierbrauers, streng und fest und tödlich eingeschnürt in ihre Vorstellungen von Ordnung und Anstand, an denen sie stur und aufrecht festhält, auch wenn in ihr und um sie herum alles zusammenbricht: Martina Gedeck. An ihr bleibe ich immer wieder fasziniert hängen. Was sie da macht, wie sie es macht, wie intensiv sie ist. Wie sich der Hass in ihr sammelt, schleichend, dann galoppierend, bis sich die Überspannung in einem düster phantasmagorisierenden Wahn entlädt.

Auch die anderen Schauspieler blühen auf in ihren Rollen und spielen mit einer selten in einem Fernsehfilm zu sehenden Inbrunst. Mit einem „rustikalen Wumms“, wie ein Freund bewundernd schrieb. Wie sie aus sich herausgehen können! „Larger than life, endlich!“, schrieb ein anderer Freund.

Brennende Erotik im Hass

Dieses Über-Lebensgroße der enthemmten, hochfahrenden Menschen. Sie reagieren auf den Schmerz und die Kränkungen, die ihnen geschehen, mit grimmiger Aggressivität und Rachsucht. Ihre Emotionen feuern zurück. Eine böswillige Macht- und Habgier vergrößert und verzerrt ihre Wahrnehmung und verdunkelt die Seelen; sie vergessen, dass sie Menschen sind und werden Besessene. Das ist mesmerisierend, weil es so strahlt und leuchtet, bevor daraus Asche wird. (Ich hab nach diesem Film sehr seltsam geträumt. Und mir im Kiosk Die Psychologie des Bösen gekauft).

Prank und seine Peergroup. Aufstrebende und marktführende Bierbrauer mit charakterlichen Defekten. Ihre Treffen sehen aus wie ein kafkaesker Alptraum (oder ein coppolanischer, wie manche Kritiker schrieben). Prank geht über Leichen für seine Vision einer gewaltigen, biertrinkenden und geldausspuckenden Unterhaltungsmaschine, der alle folgen, alle dienen, und deren Erfolg jede Schandtat rechtfertigt. Er ist überall, macht alles selbst, schreibt sogar zünftig plumpe Sauflieder für sein Zelt. Dann sieht man ihn dort in der Menge wie ein Höllenmeister die Kapelle dirigieren: Oans, zwoa, gsuffa. Zwischendurch schnell eine Maß runtergluckern und dann wieder ins Gewühl. Wenn es Streit gibt, und den gibt es dauernd, fliegen fürchterlich die Fetzen. Prank hat eine Art, sich seinen Schlagring überzustreifen… er ist ein sehr funkelnder Mann, und wenn er mit seiner Gegenspielerin Martina Gedeck aneinandergerät, sehen sie brennend erotisch aus in ihrem gegenseitigen Hass.

Das Ende ruft nach einer Fortsetzung. Vielleicht werden sie ja doch noch ein Paar, einig gegen ihre schamlos nachdrängenden, lieblosen und ungeliebten Kinder. Ich bin gespannt.

Die Serie steht bis 09.03.2022 in der BR-Mediathek.

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