Nevrland – Kritik
VoD: Eine schwule Chatbekanntschaft lockt einen jungen Mann in eine assoziative Albtraumwelt. Der Weg in Nevrland führt vom Fleisch zur Seele – doch der Horror bleibt.

Am Anfang ist das Fleisch. Ausschnitte aus Pornos, Aufnahmen von Männeroberkörpern und Schweinehälften – Bilder von Obsessionen und Überforderung, von Lust und Ekel, die sich in der Exposition von Nevrland zunehmend überlagern, sich teils stroboskopisch abwechseln. Das pulsierende und das tote Fleisch werden aber nicht gleichgesetzt, schon gar nicht moralisch. Nachdem Jakob (Simon Frühwirth), der Empfänger dieser massiven Eindrücke, in der Gemeinschaftsdusche eines Schlachthauses zusammenbricht, folgt die ärztliche Diagnose schnell: Es handelt sich um ein psychisches Problem, nicht um ein physisches.
Unbehagen an der Sexualität

Jakob wohnt zusammen mit seinem Vater (Josef Hader) und seinem Großvater (Wolfgang Hübsch). Frauen fehlen in Nevrland fast vollständig und damit eine gewisse empathische Note in Jakobs Leben wie im Film. Der Vater schläft auf der Wohnzimmercouch, der Großvater scheint nur noch für die Medikamenteneinnahme zu leben. Ein gedrängter und trostloser Lebensraum. Die Zeit zum Studium überbrückt Jakob mit der Arbeit im Schlachthaus, in dem auch sein Vater tätig ist. Sein Leben ist reines Aushalten, eine Selbstnegation. Er existiert mehr, als dass er lebt.

Die Nächte verbringt er vor Streaming- und Datingportalen, wo er zaghaft Ausdruck für seine Sexualität sucht. Erst beobachtet Jakob Wunschträume von körperlichem Kontakt, Ekstase und Selbstverwirklichung, dann folgen die Versuche, über Videokontakt etwas Ähnliches zu erleben. Der offenbar nötige Sicherheitsabstand wird jedoch in beiden Fällen gewahrt. Denn nicht erst in Verbindung mit der Abscheu vor Schweinehälften haben diese nächtlichen Ausflüge etwas Unbequemes. Die Pornos werden wie etwas Korrumpierendes ins Bild gerückt, die Chats bergen die Gefahr, die Kontrolle über die eigene Nacktheit zu verlieren. Der Auftakt des Films mit seiner drängenden Körperlichkeit macht Jakobs Unbehagen an seiner Homosexualität spürbar. Oder vielmehr sein Problem mit seiner Sexualität an sich. Oder einfach damit, sich anderen zu öffnen.
Eine Plastik von Jakobs Verfassung

Nach Jakobs ersten Zusammenbruch trennt sich Nevrland von dieser Intensität des Fleisches. Von der Physis geht es zur Psyche. Die Körper sind nun vermehrt auf Postern im Hintergrund zu finden. Das Fleisch wird zum Slogan auf Aufklebern. Es ist der Auftakt zu einer allumfassenden Metamorphose. Aus einem beklemmenden Zuhause verschlägt es Jakob in einen weiten Loft. Er verlässt den engen Kreis der Familie, um einer fragilen Bekanntschaft nachzugehen. Aus der kargen Realität wird eine assoziative (Alb-)Traumwelt. Von Fetisch und Selbstzerfleischung wird sich gelöst. Stattdessen folgen immer neue Schlaglichter in das verdrängte Nimmerland von Jakobs Seele.

Psychiater- und Museumsbesuche tragen dabei so offensiv das Psychologische in den Film, wie vorher das Fleisch aus ihm drang. Beim Psychiater soll Jakob die Angst im Raum verorten. Er setzt sie sich direkt in den Nacken – näherkommend. Sie ist es, die den Film immer wieder zerreißt und aus drückenden Realitäten surreale Fetzen macht. Beim Museumsbesuch wird darüber diskutiert, dass die Kunstwerke (in diesem Fall Statuen) Ausdrücke geistiger Verfasstheiten sind und dass das, was Jakob in ihnen wahrnimmt, sein Wesen offenbart. Mehr als einen Allgemeinplatz wiederzugeben, wirft Nevrland in einer Spiegelbewegung damit alles Geschehende, zu Sehende und zu Hörende auf Jakob zurück. Eine Plastik seiner Verfassung, eine Landkarte seiner Psyche formt sich darin.
Weniger Botschaft als Erleben

Trägermedium dafür ist eine Selbstfindungs- und verkappte Liebesgeschichte. Die Zufallsbekanntschaft Kristjan (Paul Forman) lockt Jakob aus seiner Welt in eine fremdartige – als folge er einem weißen Kaninchen. Sie lernen sich bei einem Chat kennen, treffen sich flüchtig, verfehlen sich in einem Club trotz Verabredung, lernen sich schließlich doch kennen. Langsam stolpern ihre Leben ineinander. Diese Episoden mit Disco, Drogen, Kunst und Zärtlichkeit sind verspielter und hoffnungsvoller. Potenziale öffnen sich, Zusammenhänge dekonstruieren sich, aus einer unbestimmten Angst wird die Angst vorm immer greifbareren Kontrollverlust. Nevrland ist von Gegensätzen bestimmt, nur folgt auf die Panikattacken nicht die Auflösung in eine befriedete Welt der Liebe. Der Horror (im Sozialem wie im Sexuellem) bleibt, tritt lediglich in anderen Ausprägungen auf.

Das Schöne daran ist, dass diese Psychologisierung bei aller Offensivität nur Angebot bleibt. Dass weder Jakob zwanghaft bis zur Klarheit ausgeleuchtet wird noch seine Welt unter dem Schema verkümmert. Denn Nevrland funktioniert vor allem über seine Sinnlichkeit. Der unausgesprochene Zwang zu funktionieren steckt beklemmend in der spartanischen Einrichtung der familiären Wohnung, in der auf Funktionalität reduzierten Sprache, in den ins Leere schauenden Augen. Die Möglichkeiten, sich selbst zu entdecken, stecken in einer Räume aufbrechenden Videoinstallation, in den mit sich ringenden verbalen wie körperlichen Interaktionen, in den suchenden Blicken. Hier Geheimnisse, die in einer dumpfen Welt stehen gelassen werden, da Geheimnisse, die dröhnend und beängstigend ihren Preis verlangen, die sich aber auch auszahlen können. Es ist in Nevrland weniger Botschaft als Erleben.
Der Film steht bis 28.02.2025 in der 3Sat-Mediathek.
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