Moxie. Zeit, zurückzuschlagen – Kritik
Neu auf Netflix: Der Alltag einer Highschool ist in Amy Poehlers Moxie von Übergriffigkeit, toxischer Männlichkeit und Rassismus bestimmt. Als ein Mädchen zur Revolution bläst, fühlt sich das jedoch eher an wie der nostalgische Riot-Grrrl-Wunschtraum ihrer Mutter.

Vivian (Hadley Robinson) und Seth (Nico Hiraga) brechen nachts in ein Beerdigungsinstitut ein. Es ist ihr erstes Date. Drinnen folgen erst ein paar szenische Unterhaltungen über Sargmodelle, wenig später sieht man die beiden in einem solchen kuscheln. Seth ist Skater, Vivian introvertierte Außenseiterin, die gerade ihre rebellische Ader entdeckt. Zu keinem Zeitpunkt legt Moxie nahe, einer der beiden könnte morbide Gelüste haben: Mit seiner Auspolsterung sieht der Sarg eben bequem und einladend aus. Tatsächlich geht es an der Stelle um das Glück eines ungestörten Moments, nicht um Tod und Verzweiflung. Daneben versinnbildlicht sich hier aber auch, dass die in Moxie angestrebte Harmonie im Diesseits kaum zu finden ist.
Eine Revolution, die die Highschool erschüttert

Die Handlung setzt mit dem Beginn eines neuen Schuljahres ein. Die Verhältnisse an der Highschool – das heißt vor allem die Hackordnung – sind schnell etabliert. Durch die neue, stolze, afroamerikanische Schülerin Lucy (Alycia Pascual-Peña) und deren Erfahrungen offenbart sich Vivian ebenso schnell, dass die Normalität hier von Übergriffigkeit, toxischer Männlichkeit und Rassismus bestimmt ist. Mehr noch, dass alle, sie inklusive, davor die Augen verschließen. Nur dass Vivian es nun nicht mehr verdrängen kann.

Der Handgriff, der aus spaßigen Momenten unangenehme macht, ist einfach und effektiv. Dass sich ein Footballspieler beispielsweise noch schnell unter eine sich hinsetzende junge Frau schiebt, ist beim ersten Mal noch leidlich komisch. In den Wiederholungen wirkt es bald nur noch jämmerlich und zwanghaft. Außerdem beobachtet die Kamera nach Vivians Erwachen die Frauen etwas länger. Und siehe da, die müssen das Geschehene erst einmal abschütteln. In ihrem Zorn auf die allgegenwärtigen und nicht mehr übersehbaren Belästigungen, auf das Victim Blaming, das misogyne Mobbing und die Doppelstandards setzt sie nachts ein feministisches Zine zusammen, legt es auf dem Frauenklo aus und startet damit eine Revolution, die ihre Highschool grundlegend erschüttern wird.
Nostalgischer Elternwunschtraum

Den Rahmen und die Ermutigung für ihre Rebellion bekommt Vivian durch Erinnerungsstücke ihrer Mutter (gespielt von Regisseurin und Produzentin Amy Poehler), die eine Riot-Grrrl-Vergangenheit hat. Der Staffelstab wird symbolisch von den 1990ern an die Gegenwart übergeben. Der Soundtrack der Revolution, den Moxie an seinen zentralen Stellen aufgreift, kommt von Bikini Kill, also von der Elterngeneration. Der Horizont der Geschehnisse ist so weniger der Vivians als der ihrer Mutter / Amy Poehlers. Die Handlungsgegenwart lässt Vergangenes wiederaufleben. So bekommen wir den nostalgischen Wunschtraum von Eltern zu sehen.
Ihre Mutter gibt Vivian zwei Dinge mit auf den Weg: Direkt sagt sie ihr, man müsse sich ausprobieren, auch in der Gefahr, Fehler zu machen. Indirekt kommuniziert sie aber auch das alte Zitat Herbert Wehners: „Wer mit 20 nie Anarchist gewesen ist, aus dem wird nie ein guter Demokrat.“ Die Mutter wird ein paar Probleme mit ihrer jugendlichen Tochter bekommen und eine Liebesgeschichte am Rande mitnehmen. All das ist aber sichtlich dramaturgisch motiviert und kommt nicht aus den Figuren heraus. Die von der Regisseurin gespielte Figur gleitet vor allem entspannt durch ihr Haus oder den Supermarkt und lebt in einer undramatischen Welt. Was einerseits darin begründet liegen kann, dass Vivian sich kaum für die Realität ihrer Mutter interessiert. Da sie sich andererseits aber auch über die Mutter entwirft, verkörpert diese ebenso den Fluchtpunkt eines gesetzten Erwachsenenseins, das auf die Turbulenzen der Jugend folgt.

Da hier alles nur wie Jugenderinnerung im Entstehen erscheint, sind die Einsätze in Moxie auch nicht sehr hoch. Sobald Vivian ihr Moxie-Zine unter die Leute bringt, zeigt uns der Film fast ausschließlich Solidarität. Die jungen Frauen finden nach und nach zusammen. Sind wie erlöst. Die Schule verändert grundlegend ihr Gesicht. Nur zwei Footballspieler sind weiterhin übergriffig, die Direktorin und ein Schulreporter relativieren das, diese Leute wirken aber zunehmend wie anachronistische Artefakte. Feiernd und jubelnd wird aufbegehrt und der Sieg damit schon eingefahren. Auch hier verlangt die Dramaturgie noch einige Hindernisse, die aber ohne großes Interesse abgewickelt werden. Sie sind nur der Anlauf zum nächsten Feiern von Leuten, die zu sich gefunden haben. Am Ende wird eine Schülerin offenbaren, dass sie vergewaltigt wurde. Es ist der Katalysator, der dann das Happy End bringt. Worauf immer noch mehr gefeiert werden kann. Und irgendwo im Jubel verschwindet die Frau mit ihrem Geständnis und ihrem Schmerz in der glücklichen Menge. Die schon verklärte Erinnerung führt zuweilen zu einem unsensiblen Tunnelblick.
Dem White Savior den Kopf waschen

Seine spannendsten Momente hat Moxie, wenn – wie bei Poehlers Regiedebüt, das ebenfalls für Netflix produzierte Wine Country (2019) – die Konflikte nebenherlaufen und nicht frontal angegangen werden. Vivians beste Freundin Claudia (Lauren Tsai) ist beispielsweise Asian American. Vivian vergisst sie in ihrem neuen Leben fast vollständig, so wie Claudia ebenfalls mit den neuen expressiven Beschäftigungen ihrer Freundin fremdelt. Wie sie sich anschweigen, einander ignorieren und nicht verstehen, darin werden ihre Probleme viel deutlicher als in den viel zu schnell, mit großem Tamtam herbeigeführten Versöhnungen. Claudia wird Vivian an den Kopf werfen, dass sie als Weiße gar nicht verstehen kann, was Rebellion für sie bedeutet, was es heißt, eine chinesische Mutter zu haben, die sich für die Zukunft ihrer Tochter aufgeopfert hat. Hier lässt der Film seinem White Savior nochmal kurz den Kopf waschen, bevor Vivian dann doch alle – auf eigenwillig patzige Weise – rettet. Viel erschreckender war aber davor, dass sie ganz offensichtlich gar nicht daran interessiert war, ihre beste Freundin zu verstehen. Ihre neue hippe Existenz mit den wehenden Fahnen eines Gerechtigkeitskampfes war ihr genug.
Moxie könnte immer wieder ein Film sein, der davon handelt, dass die Belange der Frauen (of Color) erst ernst genommen werden, wenn jemand sie mit weiß konnotiertem Chic angeht. Oder der vom wirkmächtigen Populismus ihrer Gegner erzählt. Aber all dies tritt hinter eine allgegenwärtige Harmoniesucht zurück. Der Film gleicht so ein wenig Vivians Love Interest Seth. Dessen einzige Eigenschaft besteht darin, dass er ihre Träume eines perfekten Geliebten verwirklicht. Was ihn zu einer ziemlich uninteressanten und lauwarmen Figur macht.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „Moxie. Zeit, zurückzuschlagen“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (8 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.