Misericordia – Kritik

Verbote sind dazu da, überschritten zu werden. In Alain Guiraudies Misericordia gerät ein Heimkehrer in einen Krimiplot, der auch mal ins boulevardkomödienhafte ausschert.

Jérémie landet in mehr als einem fremden Bett, aber Sex hat er nicht. Nicht ersteres, aber letzteres ist ungewöhnlich im filmischen Universum Alain Guiraudies, in dem potenziell alle immer mit allen schlafen wollen und, manchmal mit Hilfe magischer Wurzeln, auch können. Kreuz und quer geht das Begehren in Guiraudies jüngstem Film, Misericordia, allerdings schon. Vertraut ist zudem die Gegend, in der er spielt, la France profonde, genauer gesagt der Südwesten Frankreichs, aus dem Guiraudie kommt, dessen etwas ungeschmeidige Sprache er spricht, dessen Menschen er liebt und in dem er bis heute lebt und seine Filme auch dreht.

Jérémie (Felix Kysyl, ein bislang unbeschriebenes Blatt, für die Rolle aber als Entdeckung des Jahres César-nominiert) ist vor zehn Jahren nach Toulouse, in die Großstadt, gezogen. Nun kehrt er in das Dorf, in dem er aufwuchs, zurück. Die ersten Einstellungen: eine lange Autofahrt in mehreren Schnitten, Straßen, Bäume, Sträucher, Himmel, Bewegung ins Abseits der Zivilisation. In dem Ort hinter den sieben Bergen, der das Ziel ist, ist der ehemalige Bäcker gestorben. Bei ihm ging Jérémie einst in die Lehre, ihn hat er begehrt, ihn liebt er bis heute, über den Tod hinaus. Zu dessen Beerdigung reist er nun an, allerdings will er danach einfach nicht wieder verschwinden. Bei den Menschen vor Ort sorgt das für gemischte Gefühle.

Falscher Priester im Beichtstuhl

Fremdes Bett Nummer eins: im Haus des Verstorbenen, wo ihm dessen Witwe (Catherine Frot) im ehemaligen Kinderzimmer ihres Sohnes Vincent zu schlafen erlaubt. Der wiederum ist nicht erfreut, zumal er den nicht ganz unberechtigten Verdacht hegt, seine Mutter habe schon früher ein Auge auf den einstigen Lehrling des Vaters geworfen. Außerdem scheint auch Vincent von Wallungen des Begehrens gegenüber Jérémie nicht vollkommen frei. Mitten in der Nacht, ganz genau: 4 Uhr 10, nähert er sich dessen, also seinem eigenen Bett und drängt ihn, das Bett, die Mutter, das Haus, das Dorf zu verlassen. In der Aggression schwingt aber, denkt man, etwas anderes mit. Auch später, beim Gerangel im Wald.

Der Wald ist in diesem Film ein zentraler, märchenhaft-magischer Ort. Vincent wird hier sterben und an Ort und Stelle verscharrt. Es sprießen dann zur Unzeit Pilze auf seinem heimlichen Grab. Die wird sein Mörder mit sichtlichem Unbehagen verspeisen. Im Wald unterwegs und immer sehr plötzlich vor Ort ist der Priester. Er sammelt Pilze und hat es, was zusehends eindeutig ist, ebenfalls auf Jérémie abgesehen. Er philosophiert am Abgrund über den Mord nebenan und die Vernichtung des Lebens auf dem Planeten. Und weiß überhaupt über alles Bescheid, verrät es nur nicht. Was er in der genialsten Szene des an großen Szenen nicht armen Films im Beichtstuhl seinem falschen Priester gesteht.

Eine Erektion später

Fremdes Bett Nummer zwei: das des Priesters. Wie Jérémie hier landet, ist, mitten im Krimigeschehen, ziemlich boulevardkomödienhaft. Fehlt nur noch ein Gelieber im Schrank. Die Polizei schreitet ein und schreitet eine priesterliche Erektion später auch wieder hinaus. Wie eben die untersagende Kraft, die es einerseits braucht und die mit Leichtigkeit zu allem Zugang bekommt, andererseits bei Guiraudie immer etwas Komisches hat. Es gibt Verbote, aber alle Grenzen und Linien werden immerzu überschritten oder verschoben oder von der untersagenden Kraft selbst unterlaufen. Die Strafe bleibt aus, das ist die ambivalente Moral der Geschichte. Die Leiche wird unterdessen nicht im Keller, aber an einem gänzlich unverdächtigen Ort neu vergraben.

Fremdes Bett Nummer drei: das von Walter. Der wurde noch gar nicht erwähnt, ist aber wichtig. Verschrobener Nachbar mittleren Alters, unaufgeräumter Mann in rundlicher Unform. Freund Vincents, der Vater und verheiratet ist, aber irgendetwas Undurchsichtiges läuft zwischen den beiden, solange Vincent noch lebt. (Danach nicht mehr, was man, da auf Regeln aller Art bei Guiraudie kein Verlass ist, womöglich dazusagen muss.) Jérémie kommt lieber nicht dazwischen, trinkt mit Walter Pastis und geht ihm an die Wäsche. Der will aber nicht, vorerst zumindest, greift gar zum Gewehr, voreilig, wie er später gesteht. Es gäbe also vielleicht doch Interesse. In diesem fremden Bett landet Jérémie dennoch nicht.

Dafür im fremden Bett Nummer vier. Hier wird erstmal gekuschelt. Dann Licht aus. Guiraudie kann auch dezent. Happy End.

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