Milla Meets Moses – Kritik
VoD: Der Krebs als schöne Nachtgestalt. Regiedebütantin Shannon Murphy lässt in Milla Meets Moses einen todkranken Teenager das Leben mit maximaler Intensität feiern.

Es ist die letzte Szene des Films und die einzige, die sich der chronologischen Reihenfolge entzieht. Henry (Ben Mendelsohn) möchte seine Tochter fotografieren. Milla (Eliza Scanlen) aber möchte nicht abgelichtet werden, sie nimmt ihm kurzerhand die Kamera ab und macht ein Bild von ihm. Die Weigerung, auf einem Bild festgehalten zu werden, das Wenden der Kamera, die plötzliche Einsamkeit desjenigen, dessen Objekt ihm entgleitet, haben hier eine unübersehbare, tragische Implikation. In dieser Geste der Umkehr verdichtet sich aber auch das Prinzip des Films: Wir gucken nicht auf Milla, wir gucken auf das, was uns die Sechzehnjährige zeigen will. Milla Meets Moses ist kein dokumentarischer Film, sondern die selbstbestimmte Inszenierung und Erzählung der eigenen Geschichte, mit ihren Auslassungen und ihren Freiheiten, in erster Linie die, aus der eigenen Erzählung heraustreten zu können: zum Beispiel, als Milla Moses (Toby Wallace) vor den Augen ihrer Mutter küsst und sich mit einem schelmischen Gesichtsausdruck zur Kamera wendet, schnurstracks zum Zuschauer.
Von blond bis blau

Milla ist krebskrank. An welchem Krebs sie leidet, seit wann sie krank ist, wie viele Therapieversuche unternommen worden sind – darüber schweigt der Film. Da ist nur ein kahler Kopf und die unausgesprochene Gewissheit, dass nicht mehr viel Zeit ist. Das löst in diesem Film weniger Wehmut aus als eine unbändige Energie, das Leben mit maximaler Intensität zu feiern: ein Lebenshunger, den es in einer kürzeren Zeit zu befriedigen gilt, als vielen beschieden ist. Als der 23-jährige Moses – obdachlos, drogenabhängig und, wie es scheint, unberechenbar – zu Beginn des Films in Millas Leben tritt, wirft er sie mit ebendieser Energie wörtlich um. Milla beschließt, dass es genau ihn braucht für den Befreiungsschlag aus der liebevollen Fürsorge ihrer Eltern. Schon der nicht ohne Witz gewählte Name lässt es ahnen: Allem Anschein zum Trotz hat Moses das Zeug zum Retter.

So ist Milla Meets Moses erst mal die Geschichte einer Beschleunigung, der Versuch, in der Zeit, die bleibt, die Entwicklung einer ganzen Lebensspanne durchzugehen, mit ihren Exzessen, ihren Höhen und Tiefen, ihren ersten und letzten Malen, alles dicht beieinander: In der Nacht, in der Milla mutmaßlich das erste Mal Sex hat, verliert sie, reichlich verspätet, auch ihren letzten Milchzahn. In Millas Perückenabfolge findet Murphy ein Bild für den Schnelldurchgang: von der klassischen Langhaarfrisur über den lässig-sinnlichen, platinblonden Dutt, mit dem sich Milla ins Nachtleben stürzt, hin zum aufmüpfigen blauen Bob. Klassisches Coming-of-Age, nur überstürzt.
Die Ästhetik der Krankheit erneuern

Milla Meets Moses zeigt keine Ärzte, spielt fast nie im Krankenhaus. Wir sehen keinen verfallenden Körper, sondern einen lebensstrotzenden: Milla tanzt (unvergesslich zu Sudan Archives „Come Meh Way“), rauft sich zärtlich mit Moses, musiziert mit der Mutter, schmiegt sich an den Vater. In einer der eindrücklichsten Szenen des Films begegnet sie im Nachtclub einer spacig gekleideten Person mit kahlem Kopf und dahinfließenden Moves. Wenn der Krebs in diesem Film gezeigt wird, dann muss es diese geheimnisvolle, schöne Nachtgestalt sein, die Milla umarmt. Milla Meets Moses erneuert die Ästhetik der Krankheit, verweigert dem Zuschauer das gewohnt Hässliche.

Auch die Bildersprache strotzt vor Energie. „Ich glaube nicht, dass die Welt so unglaublich groß und schön ist, damit wir uns nur für eine Sache entscheiden“, sagt Moses irgendwann. Das wird auch auf der Bildebene eingelöst. Der Film hangelt sich von einer starken Farbkomposition zur anderen: golden im stilvollen Elternhaus, honigfarben beim Musiklehrer, surreal blau im Nachtclub, sommerlich neonfarben am Pool. Milla Meets Moses liebt das Saftige, das Gesättigte; es bürgt für Leben.
Ziemlich beste Freunde

Milla Meets Moses ist auch die vielfach erzählte Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten: Milla lebt in behütetem Wohlstand, Moses wurde von seiner Familie verstoßen und wohnt in einer Obdachlosenunterkunft. Wie es die Formel will, tasten sich beide in die Lebenswelt des anderen hinein und wachsen daran: Millas Leben wird bunter, Moses’ geordneter. Und natürlich bröckelt die Fassade: Neben der medikamentenabhängigen Mutter wirkt Moses, der eigentlich high ist, erstaunlich nüchtern. Nicht nur die wiederholten Verfremdungseffekte, die Hinweise auf die Künstlichkeit der Erzählung schaffen erholsame Distanz zum dramatischen Gegenstand; auch das Komische bricht sich immer wieder vergnüglich Bahn und weicht die Härte der Geschichte auf. Milla Meets Moses ist ein durch und durch witziger Film, der die Eltern auf die Schippe nimmt, ihr bourgeoises Milieu, ihre Widersprüche. Vielleicht, weil es anders nicht zu ertragen wäre, vielleicht aber auch, weil der Film so näher an Millas Charakter und Willen ist: Sie möchte sich den Spaß nicht verderben lassen.
Der Film steht bis 17.08.2023 in der Arte-Mediathek.
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