Meine Schwester – Kritik

VoD: Die eine kann jeden haben, aber keinen halten – die andere würde jeden nehmen, wenn sie nur einen abbekäme. Catherine Breillats Sommerferienfilm über zwei sehr ungleiche Schwestern ist gewissermaßen die Horrorversion von Éric Rohmers Pauline am Strand.

Beim Spazierengehen tauschen sich die 15-jährige lolitahafte Elena (Roxanne Mesquida) und ihre übergewichtige jüngere Schwester Anaïs (Anaïs Reboux) über sexuelle Sehnsüchte aus. Es ist ein intimes Gespräch zwischen einer Romantikerin und einer Pragmatikerin. Während die eine fast jeden haben, aber keinen halten kann, würde die andere jeden nehmen, wenn sie denn nur einen abbekäme. Durch ihre Offenheit machen sich die Mädchen verwundbar und lassen dabei keine Gelegenheit aus, die jeweils andere mit kaltblütiger Präzision zu verletzen. Weil sich die beiden gerade auf Familienurlaub an der Atlantikküste befinden, scheinen sich die Fronten zwischen der „Schlampe“ und dem „Fettsack“ vielmehr noch zusätzlich zu verhärten.

Kein Wunder, dass Anaïs Urlaub zum Kotzen findet und am liebsten vorzeitig abreisen möchte. Denn im Gegensatz zu ihrer Schwester bieten die Ferien ihr keine Gelegenheit für erste sexuelle Erfahrungen, sondern steigern nur die Gewissheit über die eigene Unvermittelbarkeit. Als die beiden in einem Café den italienischen Studenten und Nachwuchscasanova Fernando (Libero De Rienzo) kennenlernen, dauert es keine zwei Minuten, bis Elena mit ihm rumknutscht. Anaïs beobachtet die beiden argwöhnisch, während sie ein Bananensplit verschlingt.

Ein bisschen Schlampe sein wäre nicht schlecht

Die Pubertät ist in Meine Schwester (À ma soeur!, 2001) – wie die in ihrer eigenen Welt schwebende Mutter (Arsinée Khanjian) der Mädchen einmal meint – etwas, über das man eben irgendwann hinwegkommt. Ihre Entjungferung stellt sich Anaïs dementsprechend als Ereignis vor, das sie möglichst schnell und lieblos hinter sich bringen muss. Regisseurin Catherine Breillat behält zwar immer das Konkurrenzverhältnis zwischen den Schwestern im Blick, bleibt jedoch mehr bei der scharfsinnigeren, aber auch unmündigeren Anaïs. Ein bisschen Schlampe sein, das fände auch sie gar nicht so schlecht. Sie will nicht nur ein ähnliches Kleid wie Elena, sondern es auch gleich noch bis übers Knie kürzen lassen. Ihre Mutter versucht sie allerdings von einer längeren, ihrem Alter und ihrer Figur angemesseneren Alternative zu überzeugen.

Immer wieder wird Anaïs von ihrem Umfeld fast gewaltsam daran gehindert, aus ihrer festgefahrenen Rolle auszubrechen. Als sie einmal am Esstisch in Tränen ausbricht, legt Elena ihr eine Hand tröstend auf die Schulter, während sie ihr mit der anderen Essen in den Mund stopft. Ob Fürsorge und Unterdrückung, Liebe und Hass oder Sex und Gewalt, das eine scheint bei Breillat nicht ohne das andere denkbar. Kaum eine Geste wirkt hier eindeutig, geschweige denn unschuldig.

Am gesellschaftlichen Leben nimmt Anaïs kaum teil. Ständig muss sie ihrer Schwester hinterherdackeln, wird irgendwo stehen gelassen und summt dabei gedankenverloren Lieder mit Textzeilen wie „Ich lasse mein Herz verrotten“ vor sich hin. In ihrer Fantasie probt sie schon mal mit abgeschauten stereotypen Gesten für ihr späteres Liebesleben. Dabei begattet sie einen Holzpflock im Swimmingpool und flüstert: „Meine Lippen sind weich, hm?“

Breillats Haltung ist während solcher Momente gnadenlos und kühl. Weil sie ihre Heldinnen nicht schont und in ihrer Suche nach Liebe auch mal grob und dumm wirken lässt, haben die Filme oft etwas Misanthropisches. Allerdings scheint daraus weniger Verachtung für die Figuren zu sprechen als ein hartnäckiger Erkenntnisdrang. Kein falsches, weil einlullendes Mitgefühl soll den sezierenden Blick der Kamera vernebeln.

Eine Welt voller Ernüchterung und Schmerz

Hauptdarstellerin Anaïs Reboux – für die es neben einem Fernsehfilm die einzige Rolle bleiben sollte – passt mit ihrer spröden, über jede Niedlichkeit erhabenen Aura perfekt in Breillats Kosmos. Mit ihrem Trenchcoat und ihren abgeklärten Weisheiten hat sie manchmal etwas Großmütterliches, aber sobald sie kichert oder weint, wird sie sofort wieder zum Kind. Ihr Spiel wirkt in sich gekehrt und instabil, oft ist es nur ein Flackern in ihren Augen, das sie in einem Moment verletzlich wirken lässt und im nächsten wieder bösartig. Eine interessante Randnotiz: Beim Casting musste Reboux angeblich aus dem Drehbuch von Éric Rohmers Pauline am Strand (Pauline à la plage, 1983) vorlesen; einem weiteren Sommerferienfilm über enttäuschte Liebessehnsucht, von dem Meine Schwester gewissermaßen die Horrorversion ist.

Zwischen der eigenen Vorstellung und der Wirklichkeit liegt im Film eine Welt voller Ernüchterung und Schmerz. Den Fantasien von Anaïs stellt Breillat eine lange, erbarmungslose Verführungsszene gegenüber. Während Anaïs schlafen will, versucht Fernando im selben Zimmer die sich sträubende Elena zum Sex zu überreden. Sie möchte mehr Zeit, das Gefühl haben, etwas Besonderes zu sein. Er winselt dagegen armselig um Sex, verbirgt seine Geilheit hinter ebenso blumigen wie höchst manipulativen Monologen. Es ist ein grausames Schauspiel, aber manchmal auch auf eine morbide Weise komisch.

Am Ende schwatzt Fernando Elena Analsex als Kompromiss und „Liebesbeweis“ auf. Dass wir seine überdurchschnittlich große Erektion sehen (in Wahrheit eine Prothese), lässt die anschließende Penetration noch brutaler wirken. Die ihre Überlegenheit sonst biestig ausspielende Elena liegt plötzlich hilflos und malträtiert da, ihr Gesicht ins Kissen gedrückt. Dann sehen wir Anaïs’ Gesicht, ohne genau zu wissen, ob das nun Mitgefühl, Neid oder Schadenfreude in ihren Zügen ist.

Ein Schluss wie ein böser Traum

Die Komplexität und Widersprüchlichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen versucht der Film nie unnötig zu vereinfachen, um moralische Urteile zu fällen. Mal wirkt Elena wie ein Missbrauchsopfer, dann tritt sie Fernando gegenüber wieder sehr fordernd auf. Überhaupt haben Breillats Heldinnen oft einen starken inneren Drang, schlecht behandelt zu werden. Und dann ist da auch noch die Mutter, die, als sie von der Liaison erfährt, sofort mit ihren Töchtern abreist und mit ihren Erziehungsmaßnahmen nicht minder übergriffig wirkt als Fernando. Das Dilemma der Jugend besteht in Meine Schwester darin, selbstbestimmt leben zu wollen, dabei aber ständig an seine Grenzen zu kommen.

Auf diese Gewissheit lässt Breillat einen seltsamen Schluss folgen, der derart als Fremdkörper ausgestellt ist, dass er wie ein böser Traum wirkt. Während der Heimreise greift sie auf einen Deus ex machina zurück, bei dem sich Anaïs’ Sehnsüchte plötzlich wie im Märchen erfüllen. Doch wieder gibt es ein großes Gefälle zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Es ist ein bestialischer Moment, der die ständige Ohnmacht des Mädchens zwar fortsetzt, zugleich aber eine Abnabelung markiert. Statt einem romantisch verklärten Befreiungsschlag endet Meine Schwester mit einem ungelösten Zwiespalt. Bezeichnenderweise ist Anaïs’ erste wirklich souveräne Handlung eine Lüge.

Der Film steht bis 28.02.2023 in der Arte-Mediathek.

Zur Einführung und Übersicht unserer Catherine-Breillat-Reihe geht es hier.

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Kommentare


Marcus

Das Ende ist doch wohl eher ein unglaublich schockierender Albtraum. ACHTUNG, SPOILER: Ich würde es jedenfalls nicht als "die Erfüllung ihrer Sehnsüchte wie im Märchen" bezeichnen, wenn jemand vergewaltigt wird, nachdem ihre Schwester und Mutter brutal ermordet wurden.

Insgesamt ein Film, der mich verwirrt zurücklässt. Wo nimmt arte bloß immer diese französischen Filme her, in denen - von jeglicher MeToo-Debatte unbehelligt - 15-jährige Mädchen von 25-jährigen Männern verführt oder gar entjungfert werden und deren nackte Brüste und Intimbereich ausführlich inszeniert werden? Passenderweise schlug mir die Mediathek als nächste Empfehlung dann gleich "Alles, was wir lieben" mit der blutjungen Sandrine Bonnaire vor, der ja ähnlich freizügig und von der Handlung bzw. dem Verhalten der Figuren noch weniger nachvollziehbar ist.






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