Mein 20. Jahrhundert – Kritik
Mediatheken-Tipp: Elektrische Feen: Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi folgt in ihrem 1989er Debüt zwei zeitgleich mit der Glühbirne geborenen Zwillingsschwestern durch das entstehende 20. Jahrhundert.

Der wissenschaftliche Fortschritt, erklärt der französische Soziologe Gérald Bronner, wird den Glauben niemals verdrängen. Nicht nur, weil ersterer keine Antwort auf die größten Fragen der Menschheit geben wird, sondern auch, weil letzterer sich auf Dinge bezieht, die vorstellbar sind – und der wissenschaftliche Fortschritt den Bereich des Vorstellbaren ausdehnt. Auch wirft er selbst Rätsel auf; jede neue Kenntnis bringt Unkenntnis mit sich. Der Wissensstand der Menschheit wächst Hand in Hand mit dem Bewusstsein für das Ausmaß der Dinge, in die noch kein Licht gebracht wurde. Das ganz junge 20. Jahrhundert, in das Ildikó Enyedi nicht nur die Handlung ihres Films verlegt, sondern das sie zu seinem Gegenstand macht, gibt auf wundersame Weise ebendiese Verquickung wieder: das ungenierte Nebeneinander des Fortschritts und der Fantastik, mehr noch, ihre gegenseitige Durchdringung und Befruchtung.
Das Gesicht des Jahrhunderts

Denn in Enyedis Film sprechen der Fortschritt und die Fantastik dieselbe Sprache, hinterlassen denselben Ausdruck auf den Gesichtern. In der ersten Szene, die 1880 spielt, wird ein Park in New Jersey erleuchtet. Unzählige Glühbirnen hängen an den Ästen, doppeln das himmlische Sternbild auf Erden. Tibor Máthés Kamera konzentriert sich im wahrsten Sinne des Wortes auf das technische Wunder: nicht auf die Technik, sondern auf die Gesichter, die leuchtenden Augen, den noch ungläubigen und zugleich schon eroberten Ausdruck, die Scheu und zugleich die Lust, sich zu nähern. Thomas Edison, der der Zeremonie beiwohnt, hat die Sterne auf die Erde geholt. Doch schnurstracks nimmt der Film eine Gegenbewegung vor, lässt verschmitzt die Sterne Edison holen. Denn in Mein 20. Jahrhundert sprechen die Sterne, plaudern, zanken, klagen über ihre geringe Größe. Verwirrt wendet Edison das Gesicht zum Himmel. Und hier ist es wieder, das Gesicht des 20. Jahrhunderts, in diesem widersprüchlichen Zustand des Staunens über etwas, woran man noch gar nicht recht glaubt.
Die Mutter, die Hure und die Fee

Das 20. Jahrhundert ist auch das der Überwindung des Raums. Mit einer Mühelosigkeit, die die Beschleunigung und das Zusammenziehen der Welt vorwegnimmt, wechselt der Film geschwind nach Budapest. Wieder schleicht sich eine Dopplung in den Film, wieder gibt es ein staunendes Gesicht, erschrocken und gesegnet zugleich: Anya (Dorota Segda) hat unerwartet Zwillinge geboren. Derbkomisch wird ihre Überraschung zu ätherischen Klängen inszeniert. Der Film wird die Zwillinge in einer märchenhaften Szene voneinander trennen und auf zwei unterschiedlichen Bahnen durch das bevorstehende Jahrhundert schleudern. Als junge Frau wird Lili (ebenfalls gespielt von Dorota Segda) einmal einer Vorlesung von Otto Weininger beiwohnen, der erklärt, die Frau sei in ihrem Wesen nur zu zwei Rollen fähig, die der Mutter oder die der Hure. Enyedi doppelt ihre Heldin und straft Weininger damit doppelt – zumindest anderthalbfach – Lügen: Lili zeichnet sich in erster Linie durch ihren politischen Aktivismus aus – sie plant einen Anschlag auf einen Minister –, während sich Dóra (Dorota Segda in ihrer dritten Rolle) zwar ungeniert bei ihren Liebhabern bedient, aber auch als frivole Ganovin ganz gut für sich zu sorgen weiß.

Über den ganzen Film schwebt noch eine andere Figur, auf die sowohl Lili als auch Dóra ein Echo abgeben und damit vielleicht das singularische „Mein“ im Titel rechtfertigen: die „elektrische Fee“, wie sich das entstehende 20. Jahrhundert die neue Energieform vorstellt. Mit Lili ist es die Hoffnung, die man in die politische Schlagkraft des Stroms setzte – man denke nur an das Lenin zugeschriebene Zitat, Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes; mit Dóra ist es die der Elektrizität inhärente Ästhetik, trefflich bebildert in einer „Edison Light Show“, bei der ein Tänzerinnen-Duo auftritt: die eine in dunkler Kleidung, die andere mit in der Kleidung eingenähten Lichtern. Sie tanzen synchron, Hell und Dunkel in Einklang, bis sich die leuchtende Tänzerin grazil über die dunkle bückt und auf ihr zum Ruhen kommt, in einer Geste der Überlegenheit.
Vom Kino und anderen Attrappen

Strom ist Licht und Licht ist Kino: die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu doppeln, ihr eine andere Existenz zu geben; die Möglichkeit zu spielen, zu täuschen, in die Irre zu führen. So wie Lili und Dóra unwissentlich den eleganten Z. (Oleg Jankovszkij) täuschen werden, der beide in eine Affäre verwickelt und sie eins wähnt. Erst erlebt er die freizügige Dóra, dann die prüde Lili; doch anstatt sich zu wundern, scheint er eher von der Vollkommenheit seiner imaginären Geliebten entzückt; als machte die Täuschung die reale Liebe vollkommener. Mein 20. Jahrhundert ist voll solcher Attrappen, spielt mit der Künstlichkeit, der wissentlichen Täuschung; amüsiert sich über den künstlichen Kino-Sternenhimmel, den unrealistischen Schnee, lässt alle – ob Mensch oder Tier, ob Edison oder Weininger, ob in den USA, in Österreich, in Burma oder in Sibirien – Ungarisch sprechen. Das erlangt natürlich besondere Komik, als Z. auf Ungarisch gefragt wird, ob Ungarn nicht eine Erfindung von Shakespeare sei.

Auf einer Expedition in Burma spricht Z. vom Strom als einem „sanften, seidigen Blitz“, als einem Lagerfeuer, das weder brenne noch qualme; unschwer lässt sich darin der Glaube an einen dem Gemeinwohl dienlichen Fortschritt erkennen. In Lilis und Dóras 20. Jahrhundert sehen wir die Menschheit in der Technik sich zu ungeahnten Taten erheben, sehen die hoffnungsvollen Gesichter vor den Glühbirnen in New Jersey, hinter den vereisten Scheiben des Orient-Express, der ins neue Jahr fährt; doch unweigerlich überlagert „unser“ 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Industrialisierung des Grauens, das erste Jahrzehnt der beiden Lichtschwestern. Das Wissen um diese Entwicklung hat dem Fortschrittsglauben schwer zugesetzt, doch Mein 20. Jahrhundert ist nicht die Geschichte einer Illusion, sondern ein Heraufbeschwören der Fantasie. Lasst die Sterne sprechen!
Den Film kann man bis 30.11.2025 in der Arte-Mediathek streamen.
Der Text erschien ursprünglich am 09.04.2019.
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