May December – Kritik
Die große Liebe als Skandal oder ein Skandal im Gewand der großen Liebe. Todd Haynes lässt Natalie Portman und Julianne Moore nach soapigen Geheimnissen suchen und die Lust am Altersunterschied erforschen.

In May December verwandelt sich Natalie Portman in Julianne Moore und ein bisschen auch umgekehrt. Die beiden spielen zwei wunderbar perfide aufeinander bezogene Frauen: Portmans Elizabeth ist eine Schauspielerin, bekannt vor allem für einen Film und eine Serie, inklusive Nacktszenen, wie manche männliche Figuren recherchiert haben, und die ihr inzwischen peinlich sind. Um sich auf ihre nächste Rolle vorzubereiten, ist sie auf Recherchereise in Savannah, Georgia, wo Gracie Atherton-Yoo (Moore) mit ihrem 23 Jahre jüngeren Mann Joe (Charles Melton) und ihren beinahe erwachsenen Kindern lebt. In einer Verfilmung von Gracies und Joes skandalöser Vergangenheit soll Elizabeth Gracie verkörpern.
Angeblich ist sie dafür auf der Suche nach der Wahrheit hinter einer Boulevard-Story: Denn Gracie steht auf der Liste der verurteilen Sex Offenders, ihren Mann hat sie kennen und lieben gelernt, da war er 13. Als die Affäre aufflog, kam sie ins Gefängnis und brachte mindestens eines ihrer gemeinsamen Kinder ebendort zur Welt, wie ein schnell gescannter Zeitungsausschnitt offenbart.
Zweite und dritte Ebenen

Obwohl May December, den Todd Haynes nach einem Drehbuch von Samy Burch inszeniert hat, durch die detektivischen Interviews von Elizabeth beinahe wie ein Krimi strukturiert ist, sind solche Fakten für den Film völlig nebensächlich. Der Titel ist einer englischen Redewendung entlehnt, die Beziehungen bezeichnet, in denen es einen großen Altersunterschied gibt. Um dieses merkwürdige Liebesverhältnis und die daraus resultierenden Fragen rund um Macht, Hierarchie und Sexualität geht es hier einerseits, andererseits um die Frage, was das Kino mit abweichendem Verhalten machen kann: es ausstellen, imitieren, pathologisieren und verehren.
In einer Szene ganz zum Schluss dreht May December die Schraube sogar noch eins weiter und konfrontiert uns mit den Erwartungen, die wir an den Film im Film haben. Dabei ist Haynes’ mit melodramatischen Momenten gespicktes Drama auf wundersame Weise zurückhaltend und langsam erzählt, verweilt lange in Situationen, bis sich aus ihnen eine zweite, wenn nicht dritte Ebene herausschält. Das ist gleichzeitig nuanciert und deutlich, gibt viel Raum und Zeit für campy Interpretationen, lässt in den beiden ikonischen Schauspielerinnen immer weitere ineinander gestapelte Matroschka-Figuren erkennen. Einen festen Boden unter den Füßen oder auch eine Wahrheit soll es nicht geben.
Alltägliche Fiesheit
Spiegelungen und Umkehrungen sind das zentrale erzählerische und inszenatorische Prinzip von May December: In der von unbekanntem und unerklärtem Reichtum zeugenden Villa des Ehepaars herrscht betriebsames Vorbereiten einer Garten- und Grillparty in der ersten Szene des Films. Alle reden über die bald ankommende Elizabeth und die eigenen Erwartungen an die Schauspielerin. Als sie dann tatsächlich ankommt, ist Portman kaum zu erkennen, der eigentliche Star ist die Frau mit der skandalösen Vergangenheit. In gegensätzlicher Richtung entwickelt sich der Film selbst: Während Elizabeth mit jeder Fragerunde stärker selbst in Erscheinung tritt, interessiert sich Haynes zunehmend dafür, wie merkwürdig obsessiv doch ihre Recherche ausfällt.

In einer prägnanten Szene sitzen die beiden Frauen, die in etwa gleich viele Jahre trennen wie Gracie und Joe, in einem Kleidungsladen auf zwei Sesseln und schauen abwechselnd auf Gracies Tochter, die gerade Kleider anprobiert, und den Spiegel, in dem sie sich selbst und die andere sehen können. Gracie hat an den Kleidern schnell etwas auszusetzen, während Elizabeth sich scheinbar zurückhält, tatsächlich aber bereits ganz aufsaugt, wie sich Gracie im Alltag so gibt. Als die Tochter dann ganz begeistert ein kurzärmeliges Kleid vorführt, lobt sie Gracie in den höchsten Tönen dafür, ihre Arme zu zeigen, obwohl diese nicht dem Schönheitsideal entsprächen. Flugs entscheidet sich die Tochter doch für ein anderes Kleid.
Der Film betont hier Gracies Fiesheit ebenso wie deren Alltäglichkeit. Was er offenlässt, ist, wie berechnend ihr Kommentar ist. Ein psychologischer Trick oder nur eine einfache Bosheit? So oder so schlägt sich der Film auf ihre Seite, auf die des Verbrechens, auf die des Brechens der Regeln, weil das filmisch, erzählerisch und überhaupt das reichhaltigere Angebot ist.
Wahrheit und Performance
Selten im neueren US-amerikanischen Kino, vor allem nicht in dem, das Stars in den Mittelpunkt stellt, werden soziale Normen auf grundsätzliche Weise in Frage gestellt. Selbst in extravaganten, verspielten left-field-Unternehmungen wie dem Kinohit Everything Everywhere All At Once (2022) herrscht ziemlich verlässlich ein bürgerliches Ideal der Familienbande als Grundstein der Gesellschaft (dort nicht zuletzt die Heilung der Mutter-Tochter-Beziehung). Bei Haynes ist das anders, weil das, was die Menschen zusammenhält, nicht Blut ist, sondern Rot (nach Godards Diktum „Ce n’est pas du sang, c’est du rouge.“): nicht die Tradition, sondern die Ästhetik, sprich die mediatisierte und stets mediatisierbare Welt. Jede und jeder findet zu sich im Streben danach, ein Bild von sich abzugeben.

Kein Zufall, dass Haynes als Score den eines anderen Films zitiert, Michel Legrands Komposition für Der Mittler (The Go-Between, 1971) von Joseph Losey. Die Musik unterstützt den selbstreferenziellen Kern eines Films zwischen Pastiche und Exploitation, der fantastische, auch ganz unmittelbar wirkende Momente etwa von Insektenzucht und Vogeljagd enthält – inmitten des in viele Richtungen weisenden Begehrens. Ein Begehren, dessen Wahrhaftigkeit im Spiel und in der Performance liegt und das immer schon ein gelerntes ist, das gerade dann, wenn es sich dem Tabu nähert, an Durchschlagskraft gewinnt. Neben Portman und Moore bringt das Begehren einen dritten Star zum Vorschein, den kindgebliebenen Ehemann, dem Charles Melton eine brüchige und unschuldige Sexyness gibt, die, wie es bei Haynes ein bisschen Tradition ist, alle Macht den Frauen lässt. Sie wissen sie zu missbrauchen.
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