Mädchen gegen Jungs – Kritik
Eskalierende Konfrontationen und Kissenschlachten. Die Schule ist im neuen Film von Schauspielerin Hafsia Herzi ein Ort, an dem man mit der eigenen Identität ringt, aber auch ein hierarchischer Hofstaat mit Machtkämpfen.

Elternabend. Es soll besprochen werden, welche Maßnahmen für die Klasse zu ergreifen sind. Gewalt, Mobbing und Diebstahl haben Einzug gehalten, Cliquen beschuldigen sich gegenseitig und greifen sich verbal an, ein Teppich motzender Stimmen bestimmt den Ton von Mädchen gegen Jungs (La cour). Die Dramaturgie legt nahe, dass auch an diesem Abend kommt, was kommen muss: Auch die Eltern werden nicht miteinander reden, sondern sich anschreien und bedrohen. Es eskaliert, als Fabiens Eltern Anya beschuldigen, der Grund für das vergiftete Klassenklima zu sein. Anyas Eltern wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, und schießen umgehend zurück. Der Abend endet kurz vor einer sich anbahnenden Schlägerei.
Die Fußballer gegen den Rest

Hinten in der Mitte thront der Vater von Fabien (Jeson Royer) am zu kleinen Tisch: Glatze, akkurat getrimmter Bart, Stiernacken, gewaltige Muskeln. Eine Aura von Dominanz(-gebaren) und Aggression geht von ihm aus. Vorne links, abseits sitzt der Vater von Anya (Jérémie Laheurte): Wuschelhaar, und wenn da Muskeln sind, dann verlieren sie sich unter den luftigen Klamotten. In den letzten Jahren hat er mit seiner Familie ein Aussteigerleben in Australien geführt, zudem wird ihm nahegelegt, Model zu werden. Das Markante an der Szene ist aber nicht, dass dieser vergleichsweise hippieeske Typ scharf zurückschießt und sich trotz seines vermeintlich ruhigen, aufgeräumteren Charakters nur zu gern in die Eskalation stürzt. Sondern dass sein Widerpart, eine Figur, die nur da ist, um für Stunk zu sorgen, dass dieser Testosteronberg mit jemandem gecastet wurde, dessen Gesicht nicht nach Schläger aussieht, sondern überraschend weich und knuffig ist.

Der Film erzählt die Geschichte eines Klassengefüges, das seine Stabilität verliert. Auf dem Schulhof ist alles klar organisiert. In der Mitte nehmen die Fußballspieler, die Alphatiere, den Raum ein. Am Rand gibt es mehrere kleinere Cliquen. Beispielsweise die Schicksen und die Nerds. An ihrem ersten Schultag wird Anya (Lucy Loste Berset) als Neuling erstmal Richtung Rand schikaniert. Was sie sich nicht bieten lässt. Sie startet eine Revolution, die bald dazu führt, dass es statt vieler Gruppen nur noch eine Front gibt: die Fußballer gegen den Rest.
Die Grenzen sind durchlässig

Der deutsche Titel bezieht sich genau darauf. Mit einem Fußball im Gesicht fängt alles an, es folgen eine Gefangensetzung im Klo, ein vom Leib gerissenes T-Shirt; eine Provokation folgt auf die andere – bis eine Situation entstanden ist, die keinen Ausweg mehr bietet. Tyrannen, Mitläufer und Snobs hier, Außenseiter, Zicken und Verletzte, die umso brutaler zurückschlagen, dort. Mädchen gegen Jungs, das ist der Titel des Sozialdramas mit den überforderten Lehrern und den schwer zu beantwortenden Fragen über eine aus dem Gleis geratene Gesellschaft. Der Film von Regisseurin Hafsia Herzi folgt der Drehbuchstruktur, die ein solches Drama verlangt, teilweise erschreckend sklavisch.

Der französische Titel kommt ohne diese Konfrontation aus. Er ist viel offener. La cour bedeutet schlicht Der Hof, was offensichtlich den Schulhof meint, als ein soziales Feld, in dem in jungen Jahren um die eigene Identität gerungen wird, oder gleich den Hofstaat mit seinen Machtgefügen und -kämpfen. Die beiden Gruppen, auf die es hinausläuft, sind dabei nicht so streng gegliedert, wie der deutsche Titel vermuten lässt. Weder sind auf der einen Seite nur Jungs noch auf der anderen nur Mädchen. Vor allem sind die Grenzen durchlässig. Die Gruppen werden gewechselt, oder die (Notwendigkeit einer) Zuordnung wird zumindest in Frage gestellt. Der Film, auf den der französische Titel rekurriert, ist das Drama eines fragilen (sozialen wie identitären) Gefüges, das unter Schmerz, Kampfgeschrei und Trotz sein Gleichgewicht verliert und einen neuen Status quo sucht.
Eskalierende Kissenschlachten

La cour ist kein klar strukturiertes Drama, sondern ein Irrläufer, der unterwegs Sprechendes wie Obskures, Zartes wie nicht ganz Eindeutiges einsammelt. Es ist der Film von Anya, die im Grunde einfach nur einmal ankommen möchte, von Nathan (Sylvère Jacot), dem Sohn der Schuldirektorin, der in seiner Freizeit nur zu gerne mit Anya spielt, aber auf dem Schulhof seinen Status nicht durch Nähe zu ihr gefährden möchte – selbst wenn sein Platz bei den Fußballern immer mehr mit internen Schikanen bezahlt wird. Der Film von Vincent (Djanis Bouzyani), einem dauerplappernden Erzieher, der den Kindern und Erwachsenen nicht mit Weisheiten zu Rat steht, sondern mit irrwitzigen Vergleichen, die unpassenderweise fast immer bei Serena Williams enden. Von Kindern und Erwachsenen, die viel mehr auszutragen (und die auch mehr zu genießen) haben als nur den zentralen Konflikt und dessen Stellvertreterkriege. Ein Film von eskalierenden Konfrontationen und Kissenschlachten. Ein Film, in dem jemand wie ein Schläger aussieht, aber eben auch in seiner Rolle optisch nicht ganz aufgeht.
Das bedeutungsschwere und leider auch etwas bleierne Sozialdrama steckt La cour tief in den Knochen, und doch schafft es Herzi, mehr daraus zu machen: einen Film, der seinen Blick schweifen lässt, der in seine Schwere auch etwas von Das fliegende Klassenzimmer einfließen lassen kann – oder auch etwas von der Verspieltheit des wahrscheinlich besten Films der Bibi und Tina-Reihe, was den deutschen Titel vielleicht doch mehr als gerechtfertigt: Mädchen gegen Jungs (2016).
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