Licorice Pizza – Kritik

Romantische Ruhelosigkeit: Paul Thomas Andersons Licorice Pizza ist extrem reichhaltig und extrem simpel zugleich, ist Epochen-, Gesellschafts- und Kinogeschichtenpanorama – aber vor allem einfach eine Liebesgeschichte.

Hinter der nächsten Ecke, auf der anderen Seite der Tür, da liegt das Glück. Vielleicht. Hoffentlich. Zumindest liegt da irgendetwas Neues, Anderes. Undurchquerter Raum. Ein neues Stück Welt. Paul Thomas Anderson hat in seinen Musikvideos für das Schwester-Trio Haim so etwas wie einen signature move entwickelt: Ein travelling shot around the corner. Oder durch die Tür. Die Kamera blickt den Menschen ins Gesicht, während sie einen neuen Raum betreten. Aber selten sehen wir, wohin sie blicken. Denn das ist unwichtig. Ihre Bewegung braucht keinen Reiz von außen. Sie gehen nicht irgendwohin, sondern sind einfach unterwegs. Getrieben, gedrängt, gelangweilt. Auf der Suche, auf der Flucht.

Andersons neuer Film Licorice Pizza ist voll von solch reiner, gleitender, musikvideohafter Bewegung. Von einem Überschuss an Laufen, Rennen, Stürzen. Nie bleibt die Kamera lang an einem Ort, ständig will die Steadycam los, raus, weiter – zusammen mit Gary (Cooper Hoffman) und Alana (Alana Haim, eine der drei Schwestern aus eben jener Band), die ineinander verknallt sind, die einander auf die Nerven gehen, die sich gemeinsam durchs Leben im San Fernando Valley der 1970er schlagen. Die Ruhelosigkeit des Films ist die seiner Figuren, und ihrer beider Bewegung kann alles verheißen, alles sein: Romantische Gefühle, sozialer Druck, Suche nach Identität.

Alles ist nur Schauspiel

Licorice Pizza spielt in einer Welt, in der alle ständig Performance machen. Füreinander, wahrscheinlich auch für sich selbst. Das erste Bild zeigt halbstarke Jungs auf dem Schulklo, die in den Spiegel schauen. Sie stylen sich für die Jahrbuchfotos. Gary ist mittendrin. Er spielt ständig, immer. „I am a showman, that’s what I was born to do.“ Zum Beispiel den erfolgreichen Jungschauspieler und schmachtenden Romeo für die mindestens zehn Jahre ältere Alana, die als Assistentin für den Fotografen mit einem kleinen Taschenspiegel herumläuft und einen letzten kontrollierenden Blick anbietet, damit das Bild stimmt. Die beiden schäkern, umschwirren einander, die Kamera läuft mit, die kalifornische Sonne scheint, Nina Simone singt. Nach etwa eineinhalb Minuten hat Licorice Pizza bereits alles Wesentliche etabliert. Girl meets boy. Seventies. Musik und Bewegung.

Auch Alana und Gary müssen von Anfang an füreinander performen, füreinander heucheln. Er, indem er älter, souveräner, erfolgreicher, abgeklärter tut, als er ist. Sie, indem sie ihre Mid-Twenties-Sinnsuche hinstellt als rebellische, auf ewig gestellte Jugendlichkeit. Dass sie noch keinen festen Job, keinen Platz im Leben hat, kann sie Gary als Lockerheit verkaufen. Licorice Pizza ist ein Film von radikaler, eigentlich genialer Einfachheit. Eine kleine erzählerische Verschiebung wie ein moderater Altersunterschied reicht aus, um eine simple Romanze mit einer komplexen Psychologie auszustatten, ihr genug Schlagseite zu geben, um jenseits der Zwei-Personen-Beziehung ganz organisch weitere Kreise zu ziehen und über Schein und Sein in Leben, Gesellschaft und Kino nachzudenken.

Meta ohne Angeberei

Denn Hollywood liegt ganz nah. Vom San Fernando Valley aus gesehen gleich hinter den Hills. Auch wenn es erst im letzten Drittel explizit ums Filmemachen geht, erzählt Licorice Pizza von einer Welt, in der alles inszeniert wird. Untrennbar ist hier miteinander verwoben, was ist und wie es dargestellt wird. Einmal wird Alana von einem alten Hollywoodstar (Sean Penn) in einer Bar umgarnt, und in seinem Suff vermischt er wahllos Anmachsprüche mit Dialogzeilen aus B-Movies. Gary kommt rein und dirigiert seine Kumpels gezielt zum Tisch gegenüber: „Direct sight lines“ soll es geben. Auch Eifersucht will inszeniert sein. Allein diese Szene (die nach einem Cameo von Tom Waits irgendwann fast fellini-esk überbordet) webt Schichten um Schichten inner- wie außerfilmischer Bezüge um einen simplen Kern unerfüllter Liebe. Licorice Pizza ist vielleicht der unaufdringlichste Meta-Film, den man sich vorstellen kann. Wegen Momenten wie diesem und seiner generell enormen Dichte an Verweisen, die aber nie angeberisch wirken, hat Richard Brody den Film nicht zu Unrecht als elegantere Variante von Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood (2019) beschrieben.

Aber eigentlich ist jedes Business hier letztendlich Show. Gary ist die menschgewordene Gig Economy. Oder, im Seventies-Jargon: „He’s hustling.“ In 133 Filmminuten ist er Schüler, Schauspieler, Wasserbett-Verkäufer, Umzugshelfer, Image-Film-Regisseur, Kasinobetreiber. Coming of Age bedeutet hier, virtuos zu werden im Rollenwechsel, Selbstkenntnis durch kontinuierliche Selbstverfremdung zu erlangen. Garys Beziehung zu Alana ist implizit vielleicht eine romantische, explizit fast den gesamten Film über aber eine wirtschaftliche. Statt miteinander zu schlafen, gründen die beiden eine Firma. Jeder Job ist eine neue Performance, braucht neue Wörter, neues Auftreten, neue Klamotten. Und neue Lügen. „Say yes to everything“, rät Gary Alana vor ihrem ersten Casting. Kann sie Reiten? Portugiesisch? Degenfechten? Na klar.

Kalkulierte Schocker, in Zuckerwatte verpackt

Und doch imponiert der Agentin (Harriet Sansom Harris) dann vor allem Alanas „Jewish nose“. Und Boom: Plötzlich steht da ein antisemitisches Stereotyp im Raum. Ständig bremst Licorice Pizza mit solch kalkulierten Schockern seinen eigenen Flow aus, erschüttert seine scheinbar anstrengungslos gleitende Bewegung. Während die Jungs ganz am Anfang noch ihre Haare richten, explodiert im Hintergrund ein Klo. Schon junge Erwachsene oder doch nur dumme Jungs? Der Fotograf grabscht Alana im Vorbeigehen ganz selbstverständlich auf den Hintern. Beim ersten Date zerspringt ein Glas. Am Ende beginnt die erste Ölkrise. Und irgendwann zerren zwei Cops Gary plötzlich mit sich, legen ihm Handschellen an und sagen, er sei Mordverdächtiger.

Aber selbst wenn Licorice Pizza so von den aktuell großen Themen Rassismus, Sexismus, Wirtschaftskrise und Polizeiwillkür erzählt: Darum geht es ihm nicht in erster Linie. Die Härten des Lebens sind hier wie in Watte gepackt. Der Film ist ein Rausch fast ohne Drogen, eine Romanze fast ohne Sex. Und wir wissen ja, dass die Leichtigkeit, die Lockerheit, mit der die Figuren hier jede Erschütterung wegstecken, jedes Hindernis als Chance umdeuten können, nicht auf alle übertragbar wäre. Dass nicht alle fälschlich des Mordes Verdächtigten nach einer Viertelstunde wieder raus dürfen. Dass nicht jeder sexistische Übergriff einfach weggelächelt werden kann. Nicht jeder Bankrott ein Neustart sein muss.

Aber Licorice Pizza rauscht dann immer weiter, dreht lieber einen neuen Song von Sonny & Cher oder David Bowie auf, um für einen Moment gänzlich Musikvideo zu werden. Und dann wieder zurückzukehren zu seiner Geschichte von einer Zeit, einem Alter und einer Gesellschaft, in der Prekarität und Freiheit eigentlich dasselbe sind. Wo Abgründe nicht Furcht einflößen, sondern reizen. Wo irgendwann der Kuss wartet, just around the corner.

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Kommentare


Felix

Richtig starke Kritik; gefällt mir sehr gut. Nah an der Form des Mediums, tolle Beobachtungen, die über das offensichtliche hinausgehen.

Gilt auch für viele andere Beiträge auf dieser Plattform.






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