Im letzten Sommer – Kritik
Die Anwältin, ihr Stiefsohn und eine verbotene Affäre. Catherine Breillats neuester Film kommt als leichtes Sommerstück daher. Doch die französische Regisseurin macht es sich wie eh und je im Schmerz bequem.

In Catherine Breillats neuem Film Im letzten Sommer (L’été dernier) gibt es vier Sexszenen. Und in jeder stehen die Gesichter im Mittelpunkt. Zweimal zeigt uns die Kamera in einer langen Einstellung jeweils ein Antlitz. Was wir zu sehen bekommen, ist also durchaus klar: verschiedene Stufen von Ekstase, die wir im Fenster zur Seele ablesen können. Einmal, wenn Pierre (Olivier Rabourdin) mit seiner Frau Anne (Léa Drucker) schläft, und dreimal, wenn Anne und ihr 17-jähriger Stiefsohn Théo (Samuel Kircher) miteinander schlafen. Nur was in diesen Gesichtern zu sehen ist, was das physisch Nachvollziehbare psychisch mit ihnen macht, welche Folgen sich für die Beteiligten abzeichnen und welche Schichten eines verflochtenen Bedürfnishaushalts gerade angesprochen werden, ist weit weniger klar zu sagen.
Selbstbilder gehen in Flammen auf

Der ganze Aufbau des Films spiegelt sich in diesen Szenen. So wird eine simple, klar umrissene Geschichte erzählt. Théo zieht bei seinem Vater ein, weil er bei seiner Mutter in der Schweiz den Bogen überspannt hat. Auch hier ist er erst auf Krawall gebürstet, bis er in seiner Stiefmutter jemanden findet, der keine Befehle bellt und tatsächlich etwas Verständnis und Einfühlungsvermögen zeigt. Anne hingegen findet in ihrem Stiefsohn etwas, das sie aus ihrer Routine herausholt und ihr etwas Aufregung und Freiheit zurückgibt. Kurzum beginnen sie eine Affäre. Eine Affäre, die nicht sein kann, die die beiden in einen eskalierenden Kampf zwischen Begierde und ruhiger, geordneter bürgerlicher Existenz verwickeln wird, die Selbstbilder lichterloh in Flammen aufgehen lässt.
Darüber hinaus ist die ganze Konstruktion von Im letzten Sommer mehr als deutlich. Verschiedene Nebenschauplätze umringen die Geschichte, und keine davon hat etwas Zufälliges. Anne arbeitet etwa als Anwältin. Eine Mandantin ist eine Minderjährige, die vergewaltigt wurde. Eine andere soll nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrem Vater ziehen, obwohl eine nie geklärte Form von Missbrauch von ihm ausgeht. Rechtliche Konsequenzen, soziale Normen, Inzest: Die Gedanken, die in Annes Hinterkopf auftauchen könnten, stehen direkt im Film herum.

Die Anekdote von einem Künstler, dessen Kunst darin liegt, sich beim Sex mit diversen Frauen aufzunehmen, verweist auf die Angst, Spuren zu hinterlassen. Annes Unwille, über bestimmte Dinge aus ihrer Vergangenheit zu sprechen, verweist auf Traumata, auf Entscheidungen, die nicht rückgängig gemacht werden können. Und der Umstand, dass Anne und Pierre keine leiblichen Kinder haben, sondern zwei adoptierte Töchter, verweist auf den Patchwork-Charakter der Familie, und damit auf den Umstand, dass Anne sich bewusst für dieses Leben entschied, dieses Gebilde aber auch ziemlich fragil ist.
Königin eines garstigen Melodrams

Noch mehr könnte aufgezählt werden. Weshalb es einem kleinen Wunder gleich kommt, dass sich Im letzten Sommer nicht wie eine symbolisch überdefinierte Belagerung anfühlt. Stattdessen schafft es Breillat, diese herumstehenden Dinge als Quellen eines kalten Hauchs zu nutzen, der den Kern der Geschichte leicht umweht. Eine Geschichte, die sie wie eine Sommerromanze angeht – mit Sonne, Wasser und kleinen Flirts. Tatsächlich handelt es sich um einen der leichtesten Filmen Catherine Breillats. Denn lange warten die schweren Wolken eines grimmigen Gewitters lediglich am Horizont.
Perfekt dazu das Casting. Samuel Kircher hat die weichen Augen eines unschuldigen Jungen, fleischige Lippen voller Sex und das Lächeln eines Jokers. Wenn die Kamera ihm bei einer der Sexszenen unnachgiebig ins Gesicht schaut, ist am wenigsten klar, was da eigentlich zu finden ist. Léa Drucker hingegen hat etwas mütterlich Anschmiegsames – und doch schimmert das Feuer der Jugend bei ihr noch durch. Und wenn sie in die Enge gedrängt wird, wird sie ohne große Veränderung die Königin eines garstigen Melodramas, in dem sie gnadenlos die Krallen ausfährt. Als ihr Gesicht einziger Ausdruck einer der Sexszenen ist, findet sich darin am deutlichsten Ekstase. Doch der Film hat uns zu diesem Zeitpunkt genug Hinweise gegeben, dass wir auch sehen, wie sie kurzzeitig dem nagenden Bedürfnis nachgibt, ihre ganze aufgebaute Existenz in den Abgrund zu reißen.
Tinte unter der Haut

Im letzten Sommer spielt folglich lockerleicht auf der Klaviatur seines grundsätzlich paranoiden Mediums, das uns nur Außeneindrücke bieten kann, in dem das Innenleben aber prinzipiell unsicher bleibt. Die Einstellungen des Films bieten nachdrückliche Blicke. Die Struktur ist voller Erklärungen, Spiegelungen und Querverweise, die die Umstände verdeutlichen. Durch die genauen Blicke in die Gesichter, durch Implikationen und Wissen werden die Figuren und die Geschichte aber nicht leichter verständlich, sondern sie entziehen sich gerade einer letzten Klarheit. Weil diese Figuren zwischen Widersprüchen gefangen sind, zwischen dem Hass auf den Vater und dem Wunsch, von ihm geliebt zu werden, zwischen Sicherheit und Ausbruch.
Théo redet immer wieder auf Anne ein, dass er ihr ein Tattoo machen möchte, was sie lange mit guten Gründen ablehnt – bis nach einem Schnitt die Tinte doch unter ihre Haut gestochen wird. Breillat sieht genau hin und besteht trotzdem darauf, dass wir nur ahnen können, wie ihre Figuren nur ahnen können, weil sie allesamt zerrissen sind, offene Wunden, die sich nicht verschließen lassen. Im letzten Sommer lässt sie nach Kontrolle suchen, aber sich nicht in den Griff bekommen. Erneut erzählt Breillat also von etwas Unmoralischem, nicht daran interessiert, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, sondern es sich wie nie zuvor im Schmerz bequem zu machen.
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