Last Night in Soho – Kritik
Als dunkles Märchen über ein wenig idyllisches Swinging London und eine Heldin mit zersplittertem Ich macht Last Night in Soho viel Spaß. Als Horrorfilm gerät er in eine Sackgasse, findet aber dort den einzig richtigen Ausweg: die Eskalation.

Last Night in Soho mutet an wie ein zweistündiges „Ok, Boomer“: Der sanfte Beatsoundtrack erzählt von den Freuden der Nostalgie. Der dominierende mehrstimmige Gesang kündet von Gemeinschaft. Mitunter vorhandene Ecken und Kanten oder treibende Rhythmen sind in wohlige Harmonie eingebettet. Wenn Eloise (Thomasin McKenzie) zum Designstudium nach London aufbricht, startet sie nicht nur in der Provinz, sondern auch in einer anderen Zeit. Erst im Zug wird nach und nach sichtbar, dass wir uns nicht in einer heilen Welt an den Toren von Swinging London befinden, sondern im Hier und Jetzt.
Die Verklärung bröckelt schnell

Mit Mode und Musik hat es sich Elli in einer fiktiven Vergangenheit bequem gemacht. In London angekommen, wird sie mit Kopfhörern das Gegenwärtige aussperren. Das Jetzt mit seinem Potenzial für Schmerz braucht sie nicht. Sie zieht aus dem Studentenwohnheim mit den garstigen, koksenden Mitbewohnerinnen auch gleich wieder aus und in das völlig unmoderne Dachzimmer von Miss Collins (Diana Rigg) ein, wo sich des Nachts ihre Träume einer glamouröseren Welt wie von Zauberhand verwirklichen. Als ihr Spiegelbild Sandy (Anya Taylor-Joy) erlebt sie Nacht für Nacht eine zweite Wirklichkeit im Swinging London. Über Sandy erfährt sie Selbstbewusstsein, Erfolg, Verwirklichung, und in Jack (Matt Smith) findet sie einen Liebhaber, der sich mit James Bond nicht nur die Felgen aus Goldfinger (1964) teilt, sondern eben noch ein richtiger, ritterlicher Mann ist. Fehlt eigentlich nur das Statement, dass es nach den Beatles keine gute Musik mehr gab.

Es ist aber auch so, dass schon die Texte des Soundtracks weit weniger harmonisch als die Melodien sind. Oder dass Bond nicht zwangsläufig die heilsamste romantische Projektionsfläche ist. Ein näherer Blick auf die Zustände des Swinging Londons / der „Sixties“ lässt die Verklärung bröckeln. Der sogenannte Summer of Love in den USA war eben auch von „Rassenunruhen“ geprägt. Die sich vermeintlich befreiende Sexualität war zu nicht geringem Teil ein Vorrecht der Männer; ihre Schattenseiten – illegale Abtreibungen, sexuelle Gewalt, Nötigung und ein Entertainmentsektor, in dem Frauen als Frischfleisch wahrgenommen wurden – trafen sie mehrheitlich nur indirekt. Brutal setzt Last Night in Soho seine labile Protagonistin der Erkenntnis aus, dass ihre mentale Zufluchtsstätte nicht so idyllisch war wie angenommen. Aus ihrem Traum wird ein Albtraum.
Eindimensionaler Terror

Bereits in der dritten Nacht kommt die Ernüchterung. Jack ist nicht Sandys Liebhaber und der Manager ihrer ersehnten Gesangskarriere, sondern ein Zuhälter, unter dessen Hand sich das London der 1960er zum Panoptikum sexueller Gewalt formt. Und war ihr Wunderland bisher nur unmerklich weniger divers als das London der Gegenwart – wo ein junger afrobritischer Kommilitone (Michael Ajao) auf sie wartet und wie als Genugtuung für all die dimensionslosen weiblichen love interests der Filmgeschichte keine andere Eigenschaft hat, als Elli zu lieben und ihr trotz aller Demütigungen zur Seite zu stehen –, wird es jetzt zum Reich alter, weißer Männer, die immer nachdrücklicher mit Geld und Macht in Ellis/Sandys Schlafzimmer drängen, während andere Frauen nur noch als Ausgenutzte in schäbigen Striplokalen und Bordellen erscheinen.

Die Protagonistin und ihr Spiegelbild gehen erst eine Union ein, als sich Elli Sandys Frisur machen lässt und sie auch ihre Knutschflecke teilen. Sobald sich der Sex und die Untiefen annähern, wird Elli aber optisch zum Gothic Girl – vom Soundtrack wird die Wandlung von Siouxsie Sioux begleitet –, während Sandy unwandelbar bleibt. Last Night in Soho spaltet säuberlich. Hier das Saubere und irgendwie auch sehr Langweilige, dort Lust, Zwielicht und Gewalt, die als Terror eine Personalunion eingehen. Ein Terror, der aber auch sehr eindimensional bleibt.
Feministische Offenlegung des Horrors einer Epoche

Solange sich Last Night in Soho mit sehr schicken und fantasievollen Spiegelchoreografien und damit Choreografien einer zersplitterten Persönlichkeit oder seinem Auge für Mode und den Einsatz (greller) Farben als (düsteres) Märchen versteht, macht er sehr viel Spaß. Der Umbruch des Traums wird jedoch sehr zügig angestrebt und die Geschichte zum Horrorfilm verwandelt, in dem eine farblose Gegenwart von matschigen, gesichtslosen Freier-Phantomen heimgesucht wird. Das gegenseitige Umtanzen von Realitäten und Bedeutungen strandet in einem orientierungslosen Hin und Her. Das Zusammenspiel der zwei Welten verkommt zu handwerklich gekonnten, aber fantasielosen Jump Scars, die sich schnell überlebt haben.

Tatsächlich verschenkt der Film so sein Potenzial. In seiner Sackgasse angekommen, macht er aber das einzig Richtige: Er sucht die Eskalation. Täter und Opfer verdrehen sich in einem wilden Karussell. Unter dem Drang, weiter alles zu verschieben und Wendungen bereit zu halten, wird aus der feministischen Offenlegung des Horrors einer Epoche etwas Seltsames, Absurdes. Das ist dann ästhetisch oder erzählerisch kaum mehr denkwürdig, in seinem wilden Fluchtpunkt aber durchaus wieder faszinierend.
Neue Kritiken

Nuestra Tierra

While The Green Grass Grows (Parts 1+6)

Copper

Kleine Dinge wie diese
Trailer zu „Last Night in Soho“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (16 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.