Kontinental '25 – Kritik

Berlinale 2025 – Wettbewerb: Eher ein Nebenprodukt im Werk seines Regisseurs ist Kontinental '25. Radu Jude situiert die Geschichte einer von Gewissensbissen geplagten Gerichtsvollzieherin in der Tradition des Neorealismus; den er freilich mit einer gehörigen Portion Zynismus anreichert.

Fluchend stapft der Bärtige mit dem Müllsack über der Schulter durch den Wald. Animatronische Dinosaurier, wie man sie aus Vergnügungsparks kennt, pflastern seinen Weg, beachten ihn aber genauso wenig wie die Menschen in der Stadt unten. In einem dunklen Kellerloch hat der Wohnungslose immerhin ein temporäres Quartier gefunden. Bleiben kann er nicht, ein Luxushotel namens „Kontinental Boutique“ soll hier errichtet werden. Welch Ironie. Nachdem ihn die Gerichtsvollzieherin, die das Herz prinzipiell am rechten Fleck hat, mit dem offiziellen Räumungsbescheid konfrontiert hat, wickelt er sich verzweifelt ein Stück Draht um den Hals und erhängt sich am Heizkörper.

Erhabener Flugsaurier

Nach diesem wortkargen Prolog fokussiert sich Kontinental '25 auf Orsolya (Eszter Tompa), ebenjene Gerichtsvollzieherin und die eigentliche Protagonistin des Films. Obwohl ihr Handeln juristisch vertretbar war und sie im Vorfeld sogar einen Fristaufschub erwirken konnte, fühlt sie sich mindestens mitschuldig am Tod des Mannes – in seiner tragischen Austauschbarkeit nicht mehr als ein fait divers, aber doch einschneidend genug, um die Nadel an Orsolyas moralischem Kompass gründlich durcheinander und sie selbst an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Immer wieder rekapituliert sie den Ablauf des Suizids, den sie nicht verhindern konnte, in Gesprächen mit Menschen aus ihrem näheren Umfeld. Daraus entspinnt sich – so kennt man das von Radu Jude – eine betont schonungslose Gesellschaftskritik, die sich einerseits gegenwärtig geriert und andererseits um historische Reflekxion bemüht ist.

Die historische Ebene ist angesichts des ziemlich geradlinig kanalisierten Erzählstrangs auch unabdingbar. Jude perforiert die dialoglastigen Szenen mit stummen, statischen Einstellungen des Stadtraums, was besonders ergiebig ist, weil Kontinental '25 sehr konkret verortet ist: Cluj, die zweitgrößte Stadt Rumäniens, liegt in Siebenbürgen und war bis nach dem Ersten Weltkrieg Teil der Habsburgermonarchie; die Römer waren auch mal da, heute wehen überall Rumänien- und EU-Flaggen. Orsolya gehört der ungarischen Minderheit an und muss sich mit ressentimentgeladenen Hasskommentaren herumschlagen, als die Presse den Todesfall aufschnappt und gegen sie wendet. Das Vaterunser erlöst sie zwar nicht von den Sünden, aber sie spricht es fließend bilingual; der Flugsaurier – das erhabenste Bild des Films – wippt dazu engelsgleich mit den Flügeln.

Zen-Weisheiten vom Fahrradkurier

Die multikulturellen Prägungen schlagen sich auch architektonisch nieder: herrschaftliche Bauten aus der Zeit der ungarischen Krone, sowjetische Plattenbauten und Gebäude gewordene Symptome eines entgrenzten Kapitalismus postsozialistischer Prägung fügen sich unverfugt zum Stadtbild Clujs zusammen. Judes Kamera interessiert sich für die Wunden und Narben, an denen man nicht nur erkennen kann, wie sich die Schichten historischer Bausubstanz überlagern – dass Überlagern oft Verdrängen bedeutet, zeigt freilich die fatale Vertreibung des Wohnungslosen zu Beginn –, sondern auch, wie gnadenlos sich Reklame und Kapital im Stadtraum einnisten. Ein Bio-Markt in einer Gated Community; brüchige Ziegeldächer, die von umliegenden Bürotürmen optisch zermalmt werden; auf einer Fassade ein Vorschlag zur Güte: enjoy capitalism.

Der Mise-en-scène sitzt der Schalk im Nacken, sie ringt der Realität die derbsten Bilder ab: Der Politiker auf dem Wahlplakat bekommt von einer ungünstig stehenden Straßenlaterne einen Hitler-Bart verpasst, nun ja. Ein Chaplin-Bart könnte es sein, ist es aber ausnahmsweise nicht, obwohl der Filmemacher seine cinephile Gelehrsamkeit sonst stets bereitwillig zur Schau stellt. Als Orsolya mit einem Fahrradkurier, den sie von früher kennt, in der Bar eines Kinos sitzt, prangt links ein Plakat von Kuhle Wampe (1932) und links eines von Europa '51 (1952) – dazwischen verschluckt sich der Fahrradkurier am Rotwein, vielleicht weil er unablässig Zen-Weisheiten zum Besten gibt. Brecht wird nicht nur einmal erwähnt und Rossellinis Film spiegelt sich nicht nur im Titel des Films, sondern liefert mit dem Neorealismus auch den filmischen Modus, in dessen Tradition Kontinental '25 steht. Natürlich reicht die via Pasolini und Eisenstein bis zu den Lumières zurück, irgendwie.

Produktionsästhetisch geht das alles halbwegs auf: Radu Jude hat mit wenig Geld einen Film über Armut gedreht. Dass die iPhone-Kamera manchmal die Schärfe nachzieht, ist mehr feature als bug. Aber dieser Neorealismus unter spätkapitalistischen Vorzeichen ist derart ins Vulgäre gebürstet, dass mich der Verdacht beschleicht, es gehe Jude fast mehr darum, dem Publikum seine vulgäre Kratzbürstigkeit, für die es ihn ohnehin schon liebt, unter die Nase zu reiben als um differenzierte Kritik der Verhältnisse. Natürlich sind die Verhältnisse so beschissen, wie er sie darstellt. Aber lässt sich ein Fäkalzustand wirklich nur fäkalsprachlich beschreiben? Muss ich, wenn vom Sterben in Gaza und der Ukraine gesprochen, wirklich ein Video gezeigt bekommen, auf dem einem russischen Soldaten der Kopf weggesprengt wird?

Das Herz blutet ohnehin

Oder ist so eine Reaktion Ausdruck einer bürgerlichen Verdrängungsstrategie, die der Film laufend kritisiert? Orsolyas Hadern mit dem Leid der Welt hat letzten Endes mit dem Ohnmachtsgefühl zu tun, selbst in einer verhältnismäßig privilegierten Position wenig dagegen tun zu können: den Griechenlandurlaub erst absagen und dann doch nachkommen; die 2-Euro-Spenden für wohltätige Zwecke zieht der Mobilfunkanbieter direkt von der Rechnung ab, damit man ja nicht mehr dran denken muss; die Fahrradausrüstung zur besseren Verkehrssicherheit sichtbar rumänisch gestalten, weil die Autos einem Landsmann gegenüber vorsichtiger sind.

Kontinental '25 setzt regelmäßig gute Pointen, trifft auch ab und an ins Herz der allzu spätkapitalistischen Doppelmoral, das ja ohnehin blutet. Und zwar nicht zuletzt aufgrund anderer, weitaus treffsicherer Filme Radu Judes. Kontinental '25 wirkt stellenweise – mehr aber noch in seiner Gesamtheit – wie ein unmotivierter Remix einiger seiner besser strukturierten Vorgängerfilme. Das mag auch daran liegen, dass er (auf dann doch wieder sympathische Weise) einem Produktionspragmatismus entspringt: Der Film ist eine Art Nebenprodukt von Judes aufwendigerem und noch in der Post-Produktion befindlichem Dracula-Film. Allein das Sujet stellt in Aussicht, dass der nicht so blutleer wird. Weniger edgy Zynismus würde aber auch helfen.

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