Jibril – Kritik

Die Freiheit des anderen als Grenze der eigenen: Die deutsche Regisseurin Henrika Kull erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem inhaftierten Mann und einer freien Frau als ewigen Cliffhanger.

Der Kreis, in den Jibril den Zuschauer einführt, ist nicht groß: eine überschaubare Familie, ein befreundetes Paar, vielleicht noch ein Kollege, der aus der Reihe fällt. Doch in diesem kleinen Raum breitet Jibril ein Panorama verschiedener Liebesbeziehungen aus, schafft Bezugspunkte, spannt den Hintergrund auf, vor dem sich die Beziehung zwischen Maryam (Susana Abdulmajid) und dem titelgebenden Jibril (Malik Adan) abzeichnen wird. Da ist Maryams Mutter, die davon überzeugt ist, dass Liebe nicht einfach da ist, sondern mit der Zeit wächst, da ist Sadah (Emna El-Aouni), die von ihrem Mann auf Händen getragen wird. „Araber eben“, sind sich Sadah und Maryam einig. Was wiederum gar nicht so weit entfernt ist von Maryams Mutter, die darauf pocht, dass der Mann die Familie versorgt. Maryams Cousine dagegen will einen „Versager“ heiraten. „Mama, sie ist halt verliebt“, protestiert Maryam und wir ahnen: Es ist ihre sich anbahnende Liebesgeschichte, die sie verteidigt; gegen die Vorstellungen der Mutter, aber vielleicht auch gegen die eigenen Vorstellungen.

Distanzierte Nähe

Mag der Film Jibril heißen, er ist ganz bei Maryam, insbesondere zu Beginn. Die Unstetigkeit der Handkamera verweigert es uns, den Raum vollständig zu erschließen, gewährt dem Zuschauer oft als einzigen Bezugspunkt ihr markantes Gesicht. Die Umgebung zerfällt, verschwimmt, gerinnt zu undeutlichen Klumpen; der Anker ist Maryam. Doch die Close-ups trügen. Denn tatsächlich offenbart der Film wenig von ihrem Innenleben. Dabei ist das Außen beflissen abgesteckt: Berlin, geschieden, drei Töchter, eine nicht näher definierte Migrationsgeschichte, die mal nicht das Problem ist, sondern hier schlicht Faktum. Maryam beherrscht mühelos die deutsche und die arabische Sprache, bändigt die trotzigen Kinder, kommt für die Familie auf und trägt ihr langes Haar offen (kein Muss für starke Frauen, unterstreicht Jibril beiläufig über Sadahs Figur, die das Kopftuch trägt): eine freie, unabhängige Frau. Die sich in einen Mann verliebt, Jibril, dem noch drei Jahre Haft bevorstehen.

Man könnte hier ein formelhaftes Prinzip am Werk wähnen, eine dieser Liebesgeschichten, die darin bestehen, zwei Menschen aufeinanderprallen zu lassen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Interessante an Kulls Film aber ist, dass sich Maryams und Jibrils Eigenschaften nicht gegenüberstehen, sondern einander bedingen. Maryam markiert die Konturen von Jibrils Freiheit. Wenn sie die Sicherheitsprozeduren über sich ergehen lässt und Eintritt erhält in die Haftanstalt, ist sie das Element, das die Grenzziehung der Einrichtung spürbar macht, das ein Gefühl der Enge und der Beschränkung hervorruft. Und gleichzeitig, weil sie aus diesem freien Außen kommt, das die Grenzen seines Innen mit fast schmerzhafter Deutlichkeit nachzeichnet, bringt sie etwas davon mit in seine Lebenswelt: die Erinnerung daran, wie es war, frei zu sein, die Aussicht darauf, es einmal wieder zu sein.

Die Möglichkeit des Intimen

Doch Kull interessiert sich auch für das Spezifische der Haftanstalt. Nicht für den Raum selbst: Die Kamera von Carolina Steinbrecher widersetzt sich den fast schon kodifizierten Darstellungen des Gefängnisses im Film, sucht nicht die Symmetrie, die Austauschbarkeit verschlossener Türen, die Endgültigkeit einer Tür, die dumpf ins Schloss fällt. Der Raum Gefängnis, das ist, für sie, stets Jibril im Raum Gefängnis. Die Kamera löst sich nicht von ihm, bleibt nah an seinem Gesicht. Das Gefängnis offenbart sich uns bruchstückweise, fügt sich nicht zu einem Gesamtbild zusammen. Jibrils Sicht hält uns gefangen.

Es geht dem Film eher um die Möglichkeit der Liebe im Gefängnis, für den Raum, den sie einnehmen darf, für die Kompromisse, die sie eingehen muss. Jibril ist ein Film über die Möglichkeit, kleine Gesten mit großer Bedeutung zu beladen, weil andere schlicht nicht zur Verfügung stehen. Die Gesten der Liebe werden neu kodiert, sich berührende Hände markieren einen ersten Gipfel in der verlangsamten Steigerung der Körperlichkeit in diesem Raum der Beschränkungen. Der Film zeigt den Frust über die Beschränkung, das wachsende Begehren, und gleichzeitig auch die Schwierigkeit, es auszuleben, wenn die Beschränkung verschwindet: Als Maryam zum ersten Mal ein paar Stunden allein mit Jibril in der Haftanstalt verbringen darf, ist die Leichtigkeit verflogen, als hätte Jibril die Freiheit verlernt.

Die Beschränkung der Zeit

Liebe in der Haftanstalt, das ist nicht nur die Beschränkung des Raums, sondern auch die Beschränkung der Zeit. Immer wieder zeigt Jibril, wie Maryam abends Telenovelas schaut, und immer wieder sind es die letzten Augenblicke einer Episode, die wir zu sehen kommen: Die Szene erstarrt zu einem Cliffhanger, der Abspann rollt. Es ist nicht die kitschige Darstellung, die ein Echo auf Maryams Liebesgeschichte abgibt, sondern der ewig wiederholte Schnitt; das Versprechen, dass es später, an anderer Stelle, weitergeht; der Frust, im Hier und Jetzt alleingelassen zu sein. Jibril bedient sich desselben Formats, inszeniert die Beziehung zwischen Maryam und Jibril als Aneinanderreihung von kurzen, ritualisierten Besuchen. Ihre Beziehung findet in der Fiktion ein Gegenstück, in der Wirklichkeit dagegen einen Kontrapunkt: Der Film beginnt mit einer ausgelassenen Hochzeitsfeier, die Maryams und Jibrils Eheschließung per Telefon diametral entgegensteht. Auch sie wird gehandhabt wie eine Episode in einer Vorabendserie, die die Rahmenhandlung niemals ausklingen lassen darf. Und so ist das Ende in Jibril auch kein Abschluss, sondern wieder lediglich ein Schnitt. Es ist noch lange nicht vorbei.

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