I'm Thinking of Ending Things – Kritik

Netflix: Charlie Kaufman schickt in seinem neuen Film I’m Thinking of Ending Things ein junges Paar auf einen Roadtrip in die Trostlostigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Zwischendurch wird aus der Wissenschaft und den freien Künsten zitiert.

Wer versucht, sich anhand von Ortsangaben oder geografischen Besonderheiten Orientierung zu verschaffen, bleibt in I’m Thinking of Ending Things durchweg auf der Strecke. Die Handlungsschauplätze – ein altes Farmhaus, eine verschneite Landstraße, ein Eisladen und eine Highschool – tauchen wie Erinnerungsfetzen als nur sehr vage miteinander verbundene Destinationen aus dem nächtlichen Schneesturm auf und machen klar: Wer sich hierher verirrt, ist eine verlorene Seele – oder im Innenleben einer solchen unterwegs. Nicht zuletzt sorgt das 4:3-Format über den gesamten Film für ein klaustrophobisches Gefühl auf dem Weg durch die Einsamkeit des menschlichen Daseins.

Schon zu Beginn am Ende der Fahnenstange

Dabei hätte alles so romantisch beginnen können. Lucy (Jessie Buckley), Studentin der Quantenphysik mit einem gewissen Talent für romantische Landschaftsmalerei, macht sich gemeinsam mit ihrem Freund Jake (Jesse Plemons) auf den Weg, um dessen Eltern einen Antrittsbesuch abzustatten. Dieser erweist sich jedoch bereits mit der ersten Einstellung als ein abwegiges Unterfangen: Über malerische Innenaufnahmen, die wie Stillleben anmuten – Blümchentapeten, ein bäuerliches Esszimmer, ein Hundeknochen am Fuße einer Holztreppe und, man übersieht es fast, Caspar David Friedrichs Der Wanderer über dem Nebelmeer an der Wand – hören wir Lucy im inneren Monolog erklären, dass sie darüber nachdenke, mit Jake Schluss zu machen: Eine Beziehung, die sich schon zu Beginn so anfühle, als wäre man bereits am Ende der Fahnenstange angekommen, mache keinen Sinn. Und jeder nächste Schritt gehe doch nur mit dem schalen Gefühl einher, die Wiederholung des immer Gleichen zu sein. „I’m Thinking of Ending Things“: Der titelgebende Gedanke wiederholt sich wie ein Mantra.

Bereits auf der Autofahrt sitzen zwei Solitäre nebeneinander. Mit analytischer Sachlichkeit diskutieren Lucy und Jake – zuweilen recht anstrengend, für sie wie für uns –über die Dichtung von William Wordsworth, den Musicalerfolg von Oklahoma!, den sexistischen Hintergrund des Songs „Baby It’s Cold Outside“ oder Gena Rowlands Darstellung der Mabel Longhetti in John Cassavetes’ Eine Frau unter Einfluss (A Woman Under the Influence, 1974). Die übergeordnete Aussage, auf die Kaufman bei alledem hinaus möchte, legt er Jake in den Mund: „Ich glaube nicht, dass wir noch wissen, was es heißt, ein Mensch zu sein.“

Der kalte Wind der Zeit

Als die beiden dann am Farmhaus ankommen und Jakes seltsam entrückte Eltern das Parkett betreten, wird klar, dass es in I’m Thinking of Ending Things nicht nur um eine verkorkste Paarbeziehung geht, sondern um pathologische Beziehungen aller Figuren, zueinander wie auch zu sich selbst. Die Farm wird zum Irrenhaus und Gruselkabinett, das vermeintliche Zuhause zu einem, wie Lucy es poetisch in Worte fasst, „Haus aus Knochen“. Und Jake, eigentlich ein ruhiger, wenn auch etwas verkrampfter Charakter, erscheint immer zwanghafter in seinem Versuch, den regelrecht zombiehaften Eltern auszuweichen, wie einer bösen Erinnerung, der er nicht entkommen kann.

Die Handlung verläuft denn auch nicht linear, sondern wird zwischen den Zeiten förmlich hin- und hergeworfen: Mal sind die Eltern um Jahre verjüngt, dann wieder gealtert und dement oder gar auf dem Sterbebett liegend. Ein Gedichtband, ein Kinderfoto, unzählige Eisbecher der gleichen Sorte und ein Paar Hausschuhe sind die stummen, wiederkehrenden Indizien dafür, dass hier jemand der Zeit voraus oder in der Vergangenheit unterwegs ist – die Frage ist nur, ist es Lucy oder Jake, oder sind es gar beide? Lucy, deren nüchterne Voice-over-Reflexionen so etwas wie der rettende rote Faden des Films sind, erahnt schließlich, was hier vor sich geht: „Ich sehe Jakes Eltern, wie sie waren und wer sie sein werden. Ich bin der kalte Wind der Zeit, der durch sie hindurchweht.“

Die virale Macht der Bilder

In I’m Thinking of Ending Things frönt Charlie Kaufman einmal mehr seinen Vorlieben für enigmatische Erzählungen, für skurrile Charaktere, die weniger eine Entwicklung als Verwicklungen durchmachen und sich in Handlungen verstricken, bei denen man nie genau sagen kann, ob sie sich im Bewusstsein oder im Unterbewusstsein der Figuren abspielen. Dabei wabert die Adaption des gleichnamigen Thrillers von Iain Reid nicht nur um die neurotischen Abgründe ihrer Protagonisten, sondern auch um allerlei große Fragen des Menschseins herum: Wie wollen wir leben – als Individuen und als Gesellschaft? Befinden wir uns nicht in einer permanenten Selbstentfremdung? Ist unser Dasein nicht einfach nur die Projektion einer Möglichkeit, die sich in unserer Vorstellung abspielt? Sind wir nicht zeitlebens mit Was-wäre-wenn-Szenarien beschäftigt, auf der Suche nach besseren Lebensentscheidungen, ohne diese jemals zu treffen? Tanzen wir nicht die ganze Zeit um uns selbst, wie in einem real gewordenen Musical?

Die Grenzen der Realitätsebenen sind fließend, das Verwirrspiel ist perfekt inszeniert, lässt einen aber auch etwas ratlos zurück. Es geht Kaufman immer um das Bild im Bild – um die Wechselwirkung von Außen- und Innenansichten, um Emotionen, die zu Wahnvorstellungen werden, die mit der scheinbaren Realität verschmelzen und zu einer Handlungsbühne mit doppeltem Boden werden. Wie die klebrige Eiscreme-Werbung auf dem kleinen Fernseher im Wohnzimmer des Farmhauses setzt er mit dieser viralen Macht der Bilder unserer Wahrnehmung so lange zu, bis wir den Werbesong blind mitsingen können. Immerhin, am Ende klart zumindest das Wetter auf. Der Schneesturm hat sich gelegt.

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Kommentare


Friedrich

Off Topic, Entschuldigung, Warntag: Gehörte das Bellen des Hundes zur Sirene dazu, oder guckte da nur jemand Terminator?


Michael

Hab hier nichts gehört, also nichtmal die Sirene.






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