I, Tonya – Kritik
Trashy Tonya: Die Eiskunstkunstläuferin Tonya Harding schien genau zu wissen, was der Jury an ihr nicht passte. Das Biopic von Craig Gillespies offenbart dagegen eine äußerst fragwürdige Verschleierungsstrategie.

Ein Mann steigt aus dem Auto und betritt, sichtbar nervös, ein Gebäude, in dem gerade die Eiskunstläuferin Nancy Kerrigan für die US-Meisterschaft 1994 trainiert. Er fragt, wo hier die Toilette sei, jemand anderen bittet er, ihm die Kerrigan zu zeigen. Die Sportlerin verlässt gerade die Eisbahn, er folgt ihr, schlägt mit einer Eisenstange ein- oder zweimal auf ihre Beine, läuft davon, rüttelt eine gefühlte Ewigkeit an einer mit Schloss und Kette versiegelten Tür, zertrümmert die Glasscheibe, gelangt so nach draußen und steigt sehr ungeschickt zurück ins Auto. Der Mann und sein Partner wurden von Shawn Eckhardt (Paul Walter Hauser), einem dämlichen Typen mit viel Fantasie, beauftragt – er bezahlt die beiden mit Kreditkarte. Das von vorne bis hinten krumme Ding kostet Tonya Harding, der Konkurrentin von Nancy Kerrigan, ihre Karriere, denn ihr geschiedener Ehemann Jeff Gillooly konnte von der Justiz mit dem Attentat in Verbindung gebracht werden und belastete sie schwer. Dass Harding die erste Amerikanerin war, die in einem offiziellen Wettkampf den dreifachen Axel gesprungen ist, gerät danach schnell in Vergessenheit.
Unzuverlässige Erzähler

I, Tonya von Craig Gillespie macht aus der true story ein Biopic, dem zum einen Polizei- und Medienberichte, zum anderen eigens für den Film aufgenommene – und mit den Schauspielern reinszenierte – Interviews der Beteiligten als Grundlage dienten. Unzuverlässige Erzähler allesamt, tragen die Figuren in den Interviews und während der eigentlichen Handlung immer wieder direkt in die Kamera ihre eigene Auffassung des Geschehens vor. Der Film macht mit – das ist die Strategie –, hört zu, stellt Bildevidenzen her, um sie anschließend gegeneinander auszuspielen. Zum Beispiel, Tonya (Margot Robbie) – Cowboystiefel, Kippe in der Hand, dreckiges Geschirr in der Spüle – gegen ihre Mutter LaVona Golden (Allison Janney in der Oscar-prämierten Nebenrolle) – Sauerstoffgerät, Kippe in der Hand, Papagei auf der Schulter. Jede, das sehen wir, hat ihre eigene Wahrheit. Wir sehen auch, wie die kleine Tonya trainiert, wie ihre Mutter am Rande der Eisbahn ihr dabei genau zuschaut, eine nach der anderen raucht, sich Whisky in den Tee schüttet. Wie sie Jahre später ein Messer nach der Tochter wirft – „für ihr freches Maul“. Ein Szenario aus Aggression und Psychoterror, das Tonya mit Fassung und Kampfgeist durchsteht, wie jemand, der etwas zu gewinnen hat. Tonya will weiterkommen, sie will gut genug sein, für die Jury und schließlich doch noch für die eigene Mutter.
Strategie der Vertuschung

Mit achtzehn zieht sie aus, heiratet Jeff und gerät damit – terminus technicus: Wiederholungszwang – in eine weitere Falle. Jeff (Sebastian Stan) schlägt, klatscht und schubst sie gegen jede Wand und jede Ecke der gemeinsamen Wohnung, schießt auf sie, knallt die Wagentür einmal gegen ihre Hand. Prügelei, Polizei, Versöhnung – dem räumt Gillespie viel Screentime ein, und wie das für ihn hier alles Spaß und Amüsement ist! Vieles über die Umstände von Tonyas Leben vor und nach dem Attentat bleibt dabei vage – etwa was an der Präsentation ihrer Wettkampfauftritte der Jury immer wieder nicht passte oder warum die Konkurrenz mit Kerrigan von den Medien so lange ausgekostet wurde. Erst zum Abspann wird sichtbar, was uns der Film in seiner vollen Länge bis dahin zu verschleiern versuchte: Die schöne und schlanke Margot Robbie, die gut spielt und den Film auch mitproduzierte, ist der echten Tonya auffallend unähnlich. Dabei bezog sich die Ablehnung, die der Sportlerin galt, vor allen Dingen auf ihr Aussehen, nicht zuletzt auch als Veräußerung ihrer Herkunft. „Her sculptured muscles freaked some out“, heißt es in der New York Times, „especially after the attack, when they called her ‚white trash‘ and ‚old Thunder Thighs‘.
Trashy Tonya

White Trash, das lässt sich aus der sicheren Distanz heraus leicht sagen. Gillespie inszeniert die Zuschreibung als vertrautes Klischee: Kettenrauchen, geschmacklose Kleidung, Kellnerjob in einem Diner gehören dazu. Tonya hat eine Waffe, schraubt an Autos und benutzt ein eher saloppes Vokabular. Wie ihre Mutter hat sie das Selbstverständnis einer Proletin, „trashy Tonya“, sagt sie, nie besonders mädchenhaft. Nur handelt die Geschichte, die dieses Biopic mit smarter Leichtigkeit erbeutet, natürlich weniger von Klischees als von einer konkreten politischen und sozialen Situation. Spätestens nach den letzten Wahlen in den USA und in Deutschland tauchte die alte Klassenfrage in Form der – ja, durchaus auch äußerlich wahrnehmbaren – Phantombilder der Wählerinnen aus der Vergessenheit auf. Weiß, arm, ungebildet – wer ist schuld an Trump und AfD? An einer Stelle in I, Tonya sieht man ein verwittertes Americans-for-Reagan-Plakat hängen, heute hieße es vermutlich Working Man for Trump. Der US-Historiker Leon Fink spricht in dem Zusammenhang zum Beispiel von Zombie White Working Class, es fragt sich nur, ob solche Neologismen ein angemessener Umgang mit true stories sind, die uns gerade einholen. Erstaunlich, dass sich dieser Film ausgerechnet auf dem glatten Eis des wahren Lebens abgesichert wissen will. Und wo er selbst mit nichts und keinem solidarisch ist, sind wir als Zuschauerinnen folglich an einen Ort positioniert, von dem aus eine bedachtsame Rezeption schwerfällt. Dass wir von dort aus gut lachen können, ist vielleicht ein Teil des Problems.
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