"Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" – Kritik
VoD: Eine Frau plant eine radikale Theaterperformance über den Holocaust in Rumänien – und muss sich dabei mit einer Vielzahl an Hindernissen herumschlagen. Zwischen den unzähligen Erzählebenen von Radu Judes neuem Film balanciert sie dagegen elegant.

"Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen", das sind Worte, die 1941 in Ion Antonescus Ministerrat gesprochen wurden. Der Holocaust an den vom Diktator bereits für staatenlos erklärten Juden war beschlossen – und der Völkermord an den rumänischen Roma. Mit Kriegseintritt Rumäniens begann Antonescu mit den Massakern an der jüdischen Bevölkerung, die nach der Schlacht um Odessa ihren traurigen Höhepunkt fand. Hier wurden an zwei Tagen mehr als 25.000 Juden ermordet. Die Theateraufführung könnte doch vielleicht auch ohne Erwähnung und Inszenierung des Massakers auskommen, schlägt Movila (Alexandru Dabija) vor, um das Publikum nicht zu verstören. Die Verbrüderung zwischen der Wehrmacht und der rumänischen Armee geht für ihn Ordnung, nur mit einer rumänischen Beteiligung am Massaker von Odessa tut er sich als Staatsrepräsentant schwer. Doch ein ums andere Mal wehrt Mariana (Ioana Iacob) den nonchalanten Kulturbeauftragten ab. Ihre Theaterperformance wird nichts aussparen.
Wettbewerb der Massaker

Bereits in der ersten Szene offenbart Regisseur Radu Jude sowohl die verbissene Hartnäckigkeit seiner Protagonistin als auch die komplexe, auf unterschiedliche visuelle und erzählerische Ebenen verteilte Struktur, mit der er den rumänischen Holocaust und dessen Aufarbeitung auf die Leinwand bringen wird. In zwei knappen Sätzen stellt Schauspielerin Ioana Iacob sich und ihr Alter Ego Mariana vor, greift sich ein Gewehr von der Wand des Fundus und schlüpft damit quasi offiziell in ihre Rolle. Die Kamera folgt Mariana durch das Militärmuseum, in dem sich Laienschauspieler, Uniformen und Waffen aufreihen, um von Mariana miteinander kombiniert zu werden. Die anschließenden Proben entwickeln sich zu einem so komplizierten wie kräftezehrenden Unterfangen für die junge Regisseurin. Die Opfer-Darsteller sind von mit der Regieanweisung, weinend um ihr Leben zu betteln, völlig überfordert, die alten Männer, die die „dreckigen Juden“ (wie sie sich selbst nennen) spielen, wollen nicht mit den Roma gemischt werden und ein besonders dreister Wehrmachts-Darsteller versucht, seine Kollegen gegen das „antirumänische Werk“ aufzuwiegeln.
Mariana ist keineswegs eingeschüchtert. Sie legt sich offen mit aufmüpfigen, rassistischen und sexistischen Darstellern an, weist ihrem Liebhaber Stefan (Serban Pavlu) die Grenzen seines Wissens auf und bietet dem Kulturbeauftragten Movila ein ums andere Mal die Stirn. An den verbissenen Diskussionen, die Mariana ein ums andere Mal führt, scheint nicht nur die Theateraufführung selbst zu hängen, sondern auch die Chance einer Neubewertung der Vergangenheit. Die ewigen Dialoge, die das Herzstück des Films darstellen, sind dabei weniger Geschichtslektion als eine Versammlung von Diskursmaterial; über Radu Judes trockenen Humor und Marius Pandurus Kamera werden mal en passant, mal mit frontaler Ausrichtung, wahlweise humorvolle oder in ihrer Brutalität schwer verdauliche Kommentare formuliert. Beiläufig, geradezu scherzhaft fängt die Kamera Statisten ein, die im Bildhintergrund Stechschritt und Standgericht proben, während sich Mariana und Movila zwischen Artillerie- und Panzerexponaten mit ihren jeweiligen Arsenalen intellektueller Autoritäten beharken. Zitate von Wittgenstein, Hannah Arendt, Jean Ancel und Thomas Kuhn fliegen hin und her, die Wiesel-Kommission wird zitiert und eine nicht enden wollende Aufzählung von weltweiten Genoziden, inklusive Opferzahlen wird runtergerasselt, bis Mariana mit der Frage, ob Movila hier einen Wettbewerb der Massaker veranstalte, einen Punkt setzt.
Archiv und Laptop

Radu Jude widmet sich in "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" nach Aferim! erneut der rumänischen Geschichte. Wieder tut er dies jenseits der konkreten Nacherzählung und verwandelt das, was auf dem Papier wie ein didaktisches Lehrstück aussieht, in der ständigen Neugier und Flexibilität der Kamerabewegungen und der spektakulären Diskussionsakrobatik der Darsteller in eine filmischen Diskurswirbel. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird im Laufe der Theaterproben auf eine kaum überschaubare Anzahl von Erzähl- und Metaebenen ausgelagert: Historische Aufnahmen flimmern auf dem Bildschirm eines Schneidetischs, die Archivaufnahmen einer Hinrichtung werden gefiltert, indem sie vom Bildschirm eines Laptops abgefilmt werden; der verklärende Antonescu-Film The Mirror wird nach Feierabend auf Marianas Heimfernseher gezeigt und von Mariana und Stefan großzügig verspottet. Was zunächst wie eine Aufzählung wirkt, wird von Jude im Verlauf des Films in die Gegenwart verlagert. Erneut ist es ein scheinbar beiläufiger und doch perfekt gesetzter Schwenk auf eine verwaiste Straßenlaterne, der ein vorher gezeigtes Archivbild, mitsamt der Erinnerung an die rechtwinklig verdrehten Hälse der Gehängten, auf eine noch unerträglichere Art zurück in mein Vorstellungsvermögen bringt.
Den Genozid beklatschen
Die Geschichts- und Diskursschnipsel fügen sich in der finalen Theateraufführung zusammen wie verschiedene Linsen zu einem Brennglas. Die über zweieinhalb Stunden eingekreisten Implikationen verdichten sich zu Marianas spektakulärer Theateraufführung, die Jude im schäbigsten Videolook präsentiert wie einen Fernsehbericht. Mitten in der Stadt marschieren Rote Armee, Wehrmacht und rumänische Truppen auf, liefern sich ein Feuergefecht und vollführen die Schlacht und schließlich das Massaker von Odessa. Doch wie jedes Theaterstück muss sich auch Marianas Perspektive auf den rumänischen Holocaust zwangsläufig einem Publikum stellen. Jeder subversive Gedanke hinter dem Aufmarsch faschistischer Militäreinheiten offenbart sich nur dem, der fähig und willig ist, ihn aufzugreifen. Die Adressaten, die Jude hier auf dem Platz erscheinen lässt, empfangen die aufmarschierende Wehrmacht mit donnerndem Applaus, intonieren mit der Eisernen Garde die Nationalhymne und feiern die Antonescu-Rede zur Vernichtung der Juden mit lauten Zwischenrufen. Movilas jovial-ironischen Vorschlag, doch als nächstes ein Genozid-Stück in einer Romasiedlung zu inszenieren, lehnt Mariana lächelnd ab. Sie hat genug vom Beklatschen des Genozids. Als nächstes wird sie Tschechow inszenieren – den hat die Kulturgeschichte zur Genüge aufgearbeitet und man weiß wenigstens, wer zur Premiere kommt.
Der Film steht bis zum 06.08.2023 in der Arte-Mediathek.
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Kommentare
Jo
Lieber Herr Karsten Munt,
es freut mich, dass Ihnen der Film gefallen hat,
aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihre historischen
Fakten zu Beginn nicht korrekt sind... Sie sollten es
nochmal checken. Danke.
Karsten Munt
Da ist tatsächlich etwas durcheinander gekommen. Danke für den Hinweis, ist korrigiert.
Barbara
Wie kann es sein, dass eine intelligente und reflektierte Regisseurin (die im Film) ein solches, in jeder Hinsicht plumpes, dummes und spektakuläres Theaterstück auf die Beine stellen will? Diese Drehbuch(grund)idee muss mir mal jemand erklären - inhaltlich - danke.
3 Kommentare