Gute Manieren – Kritik

Anas Kind ist kein Mensch wie alle anderen. Und Marco Dutrats und Juliana Rojas’ Film hat zunächst mehr mit Blut, Lust und Sinnlichkeit zu tun als mit guten Manieren. Doch handelt ihre fantastische Fabel weniger von Realitätsflucht als von routinierter Überwindung.

São Paulo in der Abenddämmerung und bei Nacht ist eine sanft leuchtende, seltsam leere und stille Stadt. Ein breiter Fluss teilt sie in der Mitte, eine große Brücke verbindet die Teile zum Ganzen. Überquert wird diese Brücke in Gute Manieren einige Male, ein langer Weg zu Fuß und mit der Bahn, die Entfernung und die Kluft zwischen den Teilen sind damit stets hervorgehoben. Clara (Isabél Zuaa) kommt von der Peripherie, wo die Häuser klein sind, in ein luxuriöses Hochhaus auf der anderen Seite des Flusses und wird von der alleinstehenden, hochschwangeren Ana (Marjorie Estiano) als Kindermädchen eingestellt. Noch ist das Kind nicht da.

Übergänge, Schwellen, Verwandlungen

Ziemlich schnell ist klar, dass es dem Film von Marco Dutra und Juliana Rojas sehr an Übergängen, Schwellen, Verwandlungen und, ja, auch Überwindungen liegt. Dass diese in zweifacher Rolle als Erzählprinzip und Gegenstand wiederholt in Bilder – meist verblüffend unmittelbar – übersetzt werden. Die Tür zu Anas Wohnung ist auffallend groß. Immer wieder geht es hier um Geburtstage und eine Geburt, Vollmonde und ein brasilianisches Junifest, das natürlich nichts anderes als ein klassischer rite de passage ist. Ein weiteres wichtiges Setting ist eine gigantische Shoppingmall namens Bosque Cristal, die wie ein zeitgemäßes Nirgendwo (bosque heißt auf Portugiesisch „Wald“) nie ganz, sondern stets nur geheimnisvoll-ausschnitthaft gezeigt wird. So kann man sich in ihr besser verlaufen.

Doch bevor Clara die Stelle bekommt, muss sie eine Prüfung bestehen. Referenzen hat sie keine, dafür offenbar Mietschulden. Ob sie Kinder liebt? Wer tut es nicht. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester? Konnte sie nicht beenden, weil etwas dazwischenkam. Dazwischen? Hörner, Zähne, präparierte Tierköpfe hängen in Anas Wohnung als Hinweise großzügig an den Wänden und wollen gelesen werden. Die schwangere Ana ist also diejenige, die ihre dunkle Vorgeschichte bekommt: In einer gezeichneten Sequenz sehen wir, dass der Mann, mit dem sie das Kind gezeugt hat, kein Mensch ist wie alle anderen. Und so ist auch das Kind in ihrem Bauch. Ana und Clara bei der Ultraschalluntersuchung: große Augen, großer Mund, große Hände. Ein kräftiges Kerlchen, sagt der Arzt. Und dieses Kerlchen, das sie trägt, macht etwas mit Ana, was – so viel darf verraten werden – mit Fleisch und Fleischverbot, mit Blut, und Lust, und Sinnlichkeit, und zunehmend auch mit Liebe zu tun hat. Mit guten Manieren aber zunächst einmal eher weniger. Die Liebe versteht das brasilianische Regie-Duo dabei erfreulich umfassend: erotisch, mütterlich, nicht animalisch jedoch im Sinne eines anderen Begehrens, sondern als die Liebe zum Anderen, der ein Mensch ist, aber auch ein Tier. Ein Tier mit seinem Äußeren, das im Zaum und daheim nicht zu halten ist.

Tägliche Wartung und Pflege

Wie die Stadt, so ist auch Gute Manieren zweigeteilt. Dazwischen passiert etwas, was ausgesprochen drastisch ist und dann wieder auf eine bizarre Art schön. Diese fantastische Fabel, die indessen auch ein wenig zum Musical wird, vollzieht ihre Passage mit einer schlichten Ellipse – die Haare sind auf einmal länger, die Pflanzen wuchtiger – sehr charmant. Clara und das Kind, das nun endlich da ist und den biblischen Namen Joel (Miguel Lobo) trägt, führen ein so normales Leben zu zweit, dass es für ihre Verhältnisse schon wieder skurril wirkt. Die Metamorphosen, die der sechsjährige Junge (bald hat er aber Geburtstag) auf den Tag und auf die Stunde durchmacht, passieren anfangs noch im Kämmerlein hinter der verschlossenen Stahltür, werden aber später nach und nach in aller Ausführlichkeit verortet und verkörpert. Bis wir das, was sich dem Blick offenbart, auch mit den Augen einer Liebenden sehen. Darum bleibt Gute Manieren über seine gesamte Länge als modernes Märchen – und das ist das Tolle daran – weniger eine Geschichte über Realitätsflucht als ein Manifest für tägliche Wartung und Pflege, für routinierte Überwindung, für Bodenständigkeit und Mühsal. Haare entfernen, Nägel schneiden, Häkchen im Kalender setzen, darauf achten, dass die Ketten für den Kleinen, der ja wächst, auch immer wieder rechtzeitig ausgetauscht werden.

Keine einfache Geschichte also, zumal in den Lebens- und Arbeitswelten des Film Klüfte und Entfernungen unübersehbar sind: Weiß und Schwarz, Arm und Reich sind hier so gegensätzlich, wie sie nur sein könnten. Aber nur, um sich am Ende mit einem Mal vollständig aufzulösen. Erneut verbindet die große Brücke das, was sie teilt. Am Ende steht – ganz in der Logik des Films – die drohende Katastrophe zugleich für die lebendigste Utopie.


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