Grand Jeté – Kritik
VoD: Den Wertungen und Geschichten davonhüpfen. Die eigentlichen Protagonisten in Grand Jeté sind Nadjas und Marios Körper. Die Hintergründe ihrer inzestuösen Beziehung kümmern den Film wenig.

Grand Jeté, der große Sprung: Der Titel beschreibt schon die Bewegung des Films, kraftvolle, pulshafte Körperlichkeit in einem Zug. Die Erzählung entledigt sich allem, was dazu nicht nötig ist. Wo Mutter Nadja (bohrend eindringlich und furchteinflößend präzise: Sarah Nevada Grether) und Sohn Mario (mit kaltschnäuziger Bubencoolness straight from the nineties: Emil von Schönfels) herkommen, wo sie hingehen, und was psychologisch bei ihnen vorliegt, dass es zu ihrem gemeinsamen ursündlichen Tabubruch kommt – darum kümmert sich der Film nur, wenn er es muss.
Gemeinsame kinke Fantasie

Nadjas Körper ist langzeitgeschädigt vom Ballett. Schon nach dem Training mit ihren jungen Eleven bluten ihre Zehen, der Orthopäde verschreibt einen Gehstock. An ihrem Hals hat sie feuerrote Ekzeme. Ihr Körper ist aber auch unverändert schön, muskulös, schlank, und das erkundet die Kamera geduldig.
Marios Körper ist juvenil, nicht ganz fertig und doch schon stattlich. Er geht ins Fitnessstudio und trinkt Proteinshakes. An der Schwelle zwischen Kind und Erwachsenem hat er noch die glatte Makellosigkeit eines Jungen und gleichzeitig die Statur eines Mannes.

Und das sind die eigentlichen Protagonisten in Grand Jeté: diese beiden Körper, die sich aufbäumen, sich pflegen, sich einkleiden und ausziehen, trainieren, sich waschen, die miteinander schlafen. Dass Nadja und Mario Mutter und Sohn sind, könnte genauso gut Produkt ihrer gemeinsamen kinken Fantasien sein. Denn die beiden bilden vom Zeitpunkt ihres Wiedersehens an eine stille, hermetische Zweieinheit, einzig hin und wieder durch die Großmutter Marios durchbrochen. In dieser Blase gibt es keinen Kläger gegen ihre Sittenwidrigkeit und so auch keinen Richter.
Keine Parallelrealität

Gleichzeitig entsteht grundsätzlich nicht der Eindruck, der Film mache eine Parallelrealität auf, in der keine sexuelle Moral mehr gilt. Auch wenn ein paar beatgetriebene Clubszenen – in einer besonders schwummrigen davon gewinnt Mario hinter einer schwarzen Maske einen Gewichthebewettbewerb mit seinem Penis – sich beinahe anfühlen, als wäre man bei Nicolas Winding Refn gelandet, selbst wenn die Interieurs eine gewisse Zeitlosigkeit haben und mit Porzellanhunden übervölkert sind, bleibt immer klar, dass wir uns in einer gemeinsamen Gegenwart befinden. Nadja muss sich krankschreiben lassen, wenn sie sich nicht in der Lage fühlt, zu arbeiten, Mario muss in die Schule, die beiden scheinen tagsüber ein geregeltes Leben zu führen.
Warum also nimmt uns Grand Jeté mit in die Untiefen einer inzestuösen Paarbeziehung und gibt sich doch gar keine Mühe, die zu untersuchen, sozial, biografisch oder psychodynamisch zu verorten? Nur um der Provokation willen, in neues Gebiet hinauszuschwimmen? Dazu ist es spätestens seit dem deutlich heftigeren Ma Mère (2004) zu spät.

Wohl nicht: Die Tanzfigur von Isabelle Stevers auf der Berlinale uraufgeführtem Film besteht eben darin, den Wertungen und Geschichten davonzuhüpfen, sie im Schwebezustand für einen Moment nicht mehr zu brauchen. Uns an ein Gefühl von Freiheit und Körperlichkeit zu erinnern. Mit dem Schmerz eben nur das ist, was er ist, und nicht über sich hinausweist.
Der Film steht bis 08.06.2024 in der ARD-Mediathek.
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