Gesicht der Erinnerung – Kritik
VoD: Liebt man immer nur einmal? Und wie lässt sich Erinnerung im Kino formen? In seiner Vertigo-Variation Gesicht der Erinnerung um eine Liebes-Obsession spielt Dominik Graf mit großen Fragen – und transzendiert mit wildem Furor die Fernsehästhetik, an die er gebunden ist.

Gesicht der Erinnerung, ein simpler und sprechender Titel, der nach Trivialliteratur klingt und trotzdem gleich auf mehreren Bedeutungsebenen funktioniert. Zum einen geht es in Dominik Grafs jüngstem Fernsehfilm und Vertigo-Paraphrase um ein ganz konkretes Gesicht der Erinnerung, nämlich das des bald 20-jährigen Patrick (Alessandro Schuster), der die nach einem Clubbesuch kollabierende Mittdreißigerin Christina (Verena Altenberger) von der Straße aufliest – und in ihr sofort Assoziationen zu ihrem verstorbenen Jugendfreund Jacob (Florian Stetter) weckt.

Eine Ebene darüber fragt der Titel auch nach der Verfasstheit der Erinnerung, die jedem Menschen zu eigen ist und doch zwangsläufig abstrakt bleiben muss: Wie und in welcher Gestalt kommen Erinnerungen zu uns, als Traum, als Ort, als Gedanke oder Bild? Wenn sie – je weiter das Ereignis, aus dem sie geformt sind, von uns wegrückt – ihr Gesicht verändern, bis zu welchem Punkt ist ihnen zu trauen? Wie sehr sind sie eingefärbt von unseren Wünschen, Sehnsüchten und Erfahrungen? Und wie ließe sich dieser fluide Prozess in eine Ästhetik übersetzen, zumal im Film, jener Kunstform, die Vergangenes immer und immer wieder gegenwärtig erscheinen lassen kann?
Liebe als performativer Akt

Natürlich ist dafür kein Medium geeigneter als der Film, ist er doch die einzige Kunstform, die Vergangenes immer und immer wieder gegenwärtig erscheinen lassen kann. Gesicht der Erinnerung eröffnet, obwohl ein Stadtfilm, mit Naturaufnahmen: Die Drohnenkamera schwebt durch ein Tal, durch das sich ein Fluss windet. Dann schichtet eine Eröffnungsmontage die verschiedenen Zeit- und Wahrnehmungsebenen des Films wild in- und nebeneinander: Tanzen und Taumeln im Club, ein Zusammenbruch auf offener Straße; die erste Begegnung mit Patrick, der Christina nach Hause fährt und mit ihrer Mitbewohnerin schläft; Sex in einer Waldruine – ein Erinnerungssegment, das mit jeder Wiederkehr in grelleres und widernatürlicheres Licht getaucht ist (ob es mich wohl auch an Jean Rollin denken ließe, hätte ich nicht vor Kurzem Die eiserne Rose gesehen?); schließlich Christina, die im Gespräch mit ihrem Psychiater zunehmend verzweifelt zu verbalisieren versucht, was eigentlich nur gefühlt werden kann.

Kurz nach ihrem Kennenlernen treffen sich Christina und Patrick zufällig in der Stadt wieder; er ist mit einer Frau unterwegs, Christina fährt ihn, den sie kaum kennt, eifersüchtig an. Trotz des potenziellen Red-Flag-Verhaltens besorgt sich der Straßenmusiker einen Massagetermin in Christinas physiotherapeutischer Praxis, um sie wiederzusehen – und versucht, sie mit einer Keyboardballade zu bezirzen, die von Christina wiederum sofort als „unecht“ und „kitschig“ entlarvt wird. Nur wenige Szenen später – aus Christina und Patrick ist so etwas wie ein Paar geworden – wird er das Lied noch einmal spielen, diesmal mit seiner Band auf der Straße. Die Melodie ist zu Erinnerung geronnen, der Text mit Bedeutung aufgefüllt – und so gibt Christina dem Kitsch nicht nur nach, sie forciert ihn sogar, indem sie zu Patrick stürmt und ihn unter dem Applaus der Menge auf den letzten Akkord küsst. Liebe als performativer Akt, und doch gerade darin auch sehr echt.
Unerklärliche Dinge im Schwebezustand

Im Grunde ist es aber nicht Patrick, den Christina liebt, sondern noch immer Jacob. Die fixe Idee, dass Patrick seine Reinkarnation sein könnte, wird zusehends zur Obsession: Schließlich ist Patrick nur wenige Tage, nachdem Jacob verunglückt ist, nicht weit von der Unfallstelle entfernt auf die Welt gekommen – dass er auch noch den gleichen Fahrstil hat, kann doch kein Zufall sein?

„Was wäre, wenn der Mensch, den man liebt, immer derselbe ist?“, fragt Christina einmal – und ist sich eigentlich schon sicher, ausklammernd, dass eine Liebe, die auf dem Erinnern basiert, nur schwerlich eine Zukunft haben kann. Tatsächlich passieren vermeintlich unerklärliche Dinge in diesem Film: Situationen aus der Vergangenheit wiederholen sich (zumindest dann, wenn man Christinas Erinnerungen Glauben schenken darf), ein Autounfall hinterlässt keine Bremsspuren, auf einer Kinderzeichnung von Patrick fällt ein seltsamer Schatten ins Auge. Doch weder gibt Graf vollends dem Fantastischen nach, noch macht er sich mit den Rationalisierungsversuchen des Psychiaters gemein, der einen Fall von Übertragung wittert. Gesicht der Erinnerung bleibt in einem kontinuierlichen Schwebezustand.
Lust am Ausprobieren

So wie auch die Erinnerung nicht statisch ist, hält Graf den Film durchgehend in Bewegung. Entweder mit den Mitteln der Montage – kaum eine Einstellung währt länger als ein paar Sekunden – oder durch die Kamera selbst, in Reißschwenks oder hektischen Zooms. In seiner Lust am Ausprobieren, Verfremden und Gestaltwandeln transzendiert Graf die glanzlose Fernsehfilmästhetik, an die er gebunden ist: Spielerisch springt er in Tonfall und Visualität: von banal zu bedeutungsschwer, von irreal zu alltäglich (wenn plötzlich ein Ex-Lover mit falschem Bart auftaucht, finden sogar Momente der Albernheit ihren Platz). Und mit einem inszenatorischen Furor, der dem seines vorherigen Films (und seltenen Kinoausflugs) Fabian oder Der Gang vor die Hunde (2021) in wenig nachsteht, spielt er mit der Frage, welche filmische Form dem Erinnerungsapparat am ehesten entsprechen könnte: in Sekundenbruchteilen aufschimmernde Flashbacks, sich unscharf aus dem Bilderhintergrund schälende Geisterfiguren, oder ein milchiges Netz, durch das mühsam Partikel von Wahrheit drängen.
Am Ende erklären sich die Naturbilder vom Anfang, und Christinas Glaube an immerwährende Wiederholung, die uns in schlechtere, aber auch zurück in bessere Welten tragen kann, geht auf Patrick über. Je nach Perspektive liegt darin ein tröstendes oder ein beängstigendes Potenzial.
Der Film steht bis 08.05.2023 in der ARD-Mediathek.
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