Für immer hier – Kritik
In seinem ersten Spielfilm seit 12 Jahren erzählt Walter Salles die Zeit der Militärdiktatur in Brasilien als Familiengeschichte. Für immer hier macht das Private zum Ort des Widerstands gegen staatliche Willkür – und bekam dafür den Oscar als Bester Internationaler Film.

In Rückenlage auf dem Wasser treibend, von den seichten Bewegungen der Wellen getragen, hinter denen der markante Zuckerhut aufragt, bleibt Eunice Paiva (Fernanda Torres) im ersten Bild von Für immer hier nur ein kurzes Atemholen, bevor die Gewalt der Diktatur mit einem über ihren Kopf vorbeifliegenden Militärhubschrauber als Vorahnung in ihr Leben einbricht. Beide Elemente – die Wogen des Meeres sowie die plötzlich eintretende Bedrohung – lässt Regisseur Walter Salles als wiederkehrende Motive seinen Film durchwirken, der von der Entführung des ehemaligen Abgeordneten Rubens Paiva (Selton Mello) durch die brasilianische Militärregierung im Jahr 1971 sowie den Auswirkungen von Rubens’ Verschwinden auf dessen Angehörige erzählt. Damit reiht sich der Film ein in eine Tradition des post-diktatorischen lateinamerikanischen Kinos, innerhalb derer die Verbrechen diktatorischer Regime angeklagt werden, indem man sich den Schicksalen der desparecidos und ihrer Familien zuwendet. Die Grausamkeit der Diktatur zeigt sich dabei gerade in dem Nicht-Wissen der Angehörigen über das Schicksal der Verschwundenen, wodurch deren Fehlen eine dauerhaft offene Wunde hinterlässt.
Die schmerzende Lücke in einem genau beobachteten Familienporträt

Die schmerzhafte Abwesenheit des Vaters steht in Für immer hier im Gegensatz zu den Sequenzen am Beginn des Films, in denen sich Salles viel Zeit nimmt, um das Figurengeflecht innerhalb der noch vollständigen Familie präzise zu skizzieren. Von der im Meer schwimmenden Eunice schneidet Salles auf das Treiben am Strand der Guanabaro-Bucht von Rio de Janeiro, zeigt die Kinder von Eunice und Rubens beim Sonnenbad und beim Volleyballspiel, welches von einem Straßenhund gestört wird. Dieser wird daraufhin vom jüngsten Sohn Marcello in das auf der anderen Straßenseite befindliche Haus der Familie getragen, wo Marcello dann mit seinem Vater die Adoption des ungebetenen Gasts aushandelt. Spielerisch beleuchtet der Film in diesen Szenen die Verhältnisse der Figuren zueinander und führt gleichzeitig die Orte ein, an denen der Großteil der weiteren Handlung spielen wird: den Strand, dessen lange auf der Tonspur nachhallende Wellenschlag die Erinnerung an glücklichere Tage wachhält, und das Haus, diesen Raum der Sicherheit und der menschlichen Begegnungen, in den sich das Politische in Form von heimlichen Aktivitäten Rubens’ nach und nach einschleicht.

Eines Tages betreten zivile Sicherheitskräfte des Regimes das Haus der Paivas. Rubens wird zu einer Aussage mitgenommen und die Familie bleibt bewacht zurück, ohne Erklärungen oder Auskünfte über den immer länger Fortbleibenden zu erhalten. Das Zuhause wird zu etwas Unheimlichen, die Tür zum Strand bleibt nunmehr verschlossen und der Ort der fröhlichen Offenheit verwandelt sich in ein zeitweiliges Gefängnis. Die Agenten des Staatsapparates, deren offizielle Funktion uneindeutig bleibt, erscheinen gerade dadurch bedrohlich, dass sie sich höflich und den Kindern zugewandt verhalten, dabei aber Befehle ohne Erklärungen erteilen und so ein Verstehen der Vorgänge verhindern. Eine Atmosphäre absoluter Willkür entsteht – und diese stumme Gewalt setzt sich fort, als sich Eunice in den folgenden Tagen, Monaten und schließlich Jahren daran macht, das Verschwinden ihres Mannes selbst aufzuklären. Die Regierung reagiert auf Eunices Nachforschungen, indem sie Beweise verleugnet, falsche Tatsachen in den Raum stellt, dabei aber den Anschein einer juristischen Ordnung aufrechterhält – und damit eine alternative, offizielle Realität herstellt. Die Macht der Diktatur entfaltet sich in Für immer hier nicht allein durch körperliche Gewalt, die Salles nur andeutungsweise inszeniert, sondern auch dadurch, dass sie ihren Opfern ein unaufhörliches, vergebliches Suchen nach der Wahrheit aufzwingt.
Eine einfühlsame Beschwörung gelebten Lebens

Es ist eine der großen Stärken dieses Films, dass er die Szenen familiärer Nähe mit Leben füllt und sie zu einem Resonanzraum macht, in welchem der empfundene Schmerz von Eunice und ihrer Familie affektiv erfahrbar wird. Wie schon in Linha de Passe aus dem Jahr 2008 zeichnet Salles dabei ein komplexes Familienporträt, das sowohl die Eltern als auch die fünf Kinder als eigenständige Figuren lebendig werden lässt. Dass dies in Für immer hier leichtfüßiger gelingt als in dem früheren Film und die narrative Konstruktion hier kaum spürbar ist, mag damit zu tun haben, dass das bürgerliche Setting in den 1970er-Jahren mitsamt seinen popkulturellen Bezügen dem Filmemacher biographisch näher ist als die prekären Lebensbedingungen in Linha de Passe. Vor allem ist diese Leichtigkeit aber auch ein Indiz für die Weiterentwicklung eines Regisseurs, der immer versucht hat, einen gleichermaßen direkten Blick auf emotionale Entwicklungen wie auf gesellschaftliche Umstände zu werfen. Salles gelingt es, die narrative Struktur hinter das Miterleben des einzelnen Moments zurücktreten zu lassen, seinen Schauspielerinnen und Schauspielern ausreichend Raum zu geben, im Bild zu existieren und damit die Zuschauer:innen vergessen zu lassen, worauf diese wahre Geschichte von Anfang an zusteuert. So zeigt sich der brasilianische Filmemacher als großer Schauspielregisseur (was auch durch die Oscar-Nominierung für die Hauptdarstellerin Fernanda Torres unterstrichen wird) und schafft zugleich etwas, das heute nur noch wenigen Filmen gelingt: die Herstellung eines überzeugenden Naturalismus.

Dieser naturalistische Ansatz setzt sich fort in der elliptischen Erzählweise des Films. Ein Zeitsprung von 25 Jahren lässt vieles unausgesprochen, markiert aber deutlich die zwischenzeitlich durchlaufenen inneren und äußeren Veränderungen der Figuren. Für immer hier erzählt nicht detailliert von den Stationen des Kampfes, den Eunice nach ihrem späten Jurastudium um das Schicksal ihres Mannes ausgefochten hat, und er erklärt auch nicht die genauen Umstände, die den jüngsten Sohn Marcello (Antonio Saboia), auf dessen Memoiren der Film basiert, an den Rollstuhl gefesselt haben. Doch gerade indem Salles das in der Zwischenzeit sich Zugetragene nur andeutet, entsteht ein starkes Gefühl gelebten Lebens. Die Figuren existieren scheinbar auch abseits der Kamera und das im Off Abgelaufene unterstreicht das Vergehen der Zeit, auf das der Film im Titel verweist. Dabei ist der deutsche Verleihtitel irreführend, weil es Salles eben nicht darum geht, eine Ewigkeit des Moments festzuhalten, sondern, wie der Originaltitel besagt, zu beschreiben, dass die Figuren „immer noch hier“ sind. Zwei entgegenlaufende Zeitlichkeiten sind hier entscheidend: Das Festhalten an dem Moment vor Rubens’ Entführung, aber auch das ausharrende Warten auf Gewissheit, um das Trauma verarbeiten zu können. Dabei ist es das Leben selbst, sind es die Beziehungen der Menschen untereinander und ihr Zusammenhalt über die Zeiten hinweg, die der Brutalität des Regimes einen Raum des Widerstands entgegensetzen. Eunice und ihre Kinder sind angeschlagen, aber nicht gebrochen – trotz der Erfahrung von Verlust und Bedrohung erwächst ihnen im Lauf des Films eine innere Stärke, welche in der selbstbewussten Gewissheit gipfelt, dass Unrechtsregime nicht ewig währen.
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