Frühling in Paris – Kritik
VoD: Frühling in Paris erzählt die Begegnung zwischen der 16-jährigen Suzanne und dem 35-jährigen Raphaël wie einen Traum. So ganz räumt Regisseurin Suzanne Lindon in ihrem Debüt den Verdacht nie aus, dass ihre Heldin sich nur ein Alter Ego erfindet.

Eine Sechzehnjährige (Suzanne Lindon) schlürft ein diabolo grenadine. Das alkoholfreie Getränk aus Limonade und Granatapfelsirup, so werden wir erfahren, ist ihr Markenzeichen. Tatsächlich trifft es auch ihr Wesen nicht schlecht: kindlich, verträumt und süß, aber auch elegant. Suzanne sitzt im Café mit Gleichaltrigen, das Gespräch ist lebhaft, aber Suzanne nimmt nicht daran teil, scheint nicht einmal zuzuhören. Ihre Aufmerksamkeit – und die der Kamera – gilt ganz ihrem diabolo grenadine und seinem Weg vom Glas über den Strohhalm in ihren Mund, später den hellroten Formen, die sie mit dem Strohhalm auf die weiße Tischdecke malt. Die Eröffnungsszene zeigt ein Mädchen, das irgendwie nicht dazugehört, aber auch nicht merklich danach strebt. Stattdessen findet es Gefallen an Kleinigkeiten, die andere nicht wahrnehmen.
Die Einsamkeit des Zentrums

Als Suzannes Blick das erste Mal auf Raphaël (Arnaud Valois) fällt, sitzt er an einem Tisch auf einer Terrasse, auch er umgeben von Menschen, aber geistig abwesend, und spielt mit dem Besteck. Frühling in Paris (Seize printemps) erzählt eine Liebesgeschichte zwischen zwei Außenseitern. Sie ist sechzehn, er ist fünfunddreißig – aber nicht zwei Welten treffen hier aufeinander, vielmehr treffen sich zwei Menschen in der Welt, die sie in ihrer Einsamkeit für sich erschaffen haben. Eine Einsamkeit, die von ihrer Langeweile herrührt: Raphaël, der Theaterschauspieler, ist es leid, jeden Abend aufs Neue dasselbe aufzusagen; Suzanne interessiert sich nicht für ihre gleichaltrigen Klassenkameraden. Lindon setzt ihre Hauptfigur oft ins Zentrum des Bildes, im Café inmitten einer Freundesgruppe, bei einer Party auf einer Couch zwischen zwei Mädchen, aber es ist ein einsames Zentrum, nicht eingebunden in das Geflecht von Worten und Blicken, sondern seltsam abseits.
Abbild ihrer selbst

Frühling in Paris erzählt die unwahrscheinliche Begegnung und Annäherung zwischen Suzanne und Raphaël wie einen Traum, den Suzanne träumt. Erstaunlich forsch lauert sie Raphaël auf (wahrscheinlich würde man das „stalken“ nennen, wenn dieser Film sich nicht gegen Anglizismen sträuben würde, mit seinem kitschigen Theaterdekor-Paris und seiner auffälligen Zeitlosigkeit). Als sie endlich aufeinandertreffen, drängt sich die gegenseitige Liebe mit einer nahezu komischen Bestimmtheit auf. Es wird wenig gesprochen, nur behutsam umgarnt, man ist sich einig: Das ist Liebe.

Man ist sich einig, oder vielleicht auch nur Suzanne, denn so ganz räumt Lindon den Verdacht, dass ihre Protagonistin sich nur ein Alter Ego erträumt, nie aus. Frühling in Paris wird aus Suzannes Perspektive erzählt: die Perspektive eines Mädchens aus gut betuchter Familie, das in einer großen Wohnung in zentraler Lage wohnt; das seinen Eltern sehr nahesteht (was mitunter komische Züge annimmt, etwa, als Suzanne ihren Vater fragt, ob er an Frauen eher Röcke oder Hosen mag – Röcke, antwortet er, und fortan trägt Suzanne einen Minirock); die Perspektive eines Mädchens, das sich, wie gehabt, wenig für die Außenwelt interessiert. Die erste Liebe, so könnte man meinen, erweitert die Perspektive, nimmt sie in ungeahnte Gefilde mit, stellt eine Begegnung mit dem Andersartigen dar. Raphaël aber scheint geradezu ein Produkt von Suzannes Perspektive zu sein, ein Abbild ihrer selbst.
Von synchron zu asynchron

Frühling in Paris findet eigene Bilder für körperliche Nähe. Auf die Darstellung von Sex oder auch nur von einem Kuss auf den Mund verzichtet Lindon gänzlich. Stattdessen lässt sie Suzanne und Raphaël zu Opernmusik zeitgleich dieselben Bewegungen ausführen; Synchronität als höchster Ausdruck der Nähe.

Frühling in Paris ist klassisches Coming-of-Age. Weder fehlt die Szene, in der Suzanne ihr Spiegelbild küsst, noch die, in der sie sich unbeholfen Wimperntusche auf die Wange schmiert. Lindon aber schickt ihre Hauptfigur weniger auf den Weg zur ersten großen Liebe als auf den Weg zur Selbstbehauptung. Es gibt eine tolle Szene, in der Raphaël Suzanne vorschlägt, auf seinem Motorrad mitzufahren. Man erahnt schon, wie sie sich erschrocken und vergnügt zugleich an ihn klammern wird. Zu seinem Erstaunen schlägt sie das Angebot aber aus. Mühsam schiebt Raphaël dann das schwerfällige Motorrad, während Suzanne tänzelnd an seiner Seite geht. Der Weg ist frei.
Der Film steht bis 24.07.2022 in der WDR-Mediathek.
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