Frankfurt Kaiserstraße – Kritik
Siffiges Paradies und glänzender Sündenpfuhl: Statt Zwischentönen gibt es in Frankfurt Kaiserstraße (1981) grobe Kontraste. Dabei bewahrt sich Roger Fritz' letzter Kinofilm die Blauäugigkeit, die seine Figuren ins Verderben rennen lässt.

„Scheiß-Freiheit!“ Es ist das letzte Wort, das Susanne (Michaela Karger) von ihrem Vater hört. Der hat sich in der Enge des heimatlichen Dorflebens eingerichtet. Zu verstehen, warum seine Tochter aufbricht, dieser zu entfliehen und in Frankfurt Selbstverwirklichung zu suchen, kann er sich gar nicht erlauben. Sonst würde er bemerken, wie unfrei er trotz der heuchlerischen Moralvorschriften ist, die er anderen aufzwingt und mit denen er sich selbst nicht behelligt. Die wenigen Minuten, die wir ihn erleben, und die Furcht, die er bei anderen Dorfbewohnern auslöst, sind so beklemmend, dass der Film nichts davon wieder aufgreifen muss. Frankfurt Kaiserstraße schickt seine beiden Hauptfiguren auf die Suche nach Freiheit, weg von diesem Leben. So sehr die Protagonisten dabei scheitern, so sehr die ländliche Tristesse nur gegen eine urbane eingetauscht wird, das Verschwinden des Dorfs als Lebensoption ist absolut.
Auf der einen Straßenseite Utopie …

Gleichzeitig mit Susanne bricht ihr Freund Rolf (Dave Balko) Richtung Mainmetropole auf. Sein Aufbruch aus dem heimatlichen Dorf ist aber weniger freiwillig, da er in Frankfurt seinen Grundwehrdienst ableisten muss. Dass beide sich am Bahnhof verpassen und getrennt fahren, ist richtungsweisend für einen Film, der sich vor allem über Dualismen aufbaut. Zwei Wege werden sie beschreiten, die einander gegenübergestellt werden. Rolf wird beim Bund die passiv-aggressive Einengung der Heimat in potenzierter Form als Unterdrückungs- und Erniedrigungsapparat wiederfinden. Schlupflöcher – Urlaub oder Lücken im Stacheldraht auf den Kasernenmauern – wird er suchen, in denen er nach Platz für sich Ausschau hält. Susanne muss sich stattdessen mit dem Glück und der Niedertracht der Fiktion einer totalen Freiheit auseinandersetzen.

Direkt mit dem Auftakt befinden sich Susanne und Rolf schon auf Besuch in Frankfurt. Was Susannes Erlebnisse ausmachen wird, die beiden Seiten der Großstadt – siffiges Paradies und glänzender Sündenpfuhl –, das liegt hier einander unmittelbar gegenüber. Auf der einen Straßenseite: Susannes Onkel bzw. Tante Ossi (Kurt Raab), den die beiden nicht in seinem Blumenladen antreffen, weshalb sie kurz mit seinem Lebensgefährten Tonino (Choreograf Gene Reed) plauschen. Ossi, bei dem Susanne später unterkommt, wird im gesamten Film nur einmal keine Damenkleider tragen. Seine Selbstidentifizierung ist den Film lang Mysterium für die Außenstehenden, für ihn ein unaufgeregter Findungsprozess am Rand zu erreichter Selbstverständlichkeit. Auch wenn visuell das Karge und Heruntergewirtschaftete dominiert, mit Ossi und seinem Umfeld wird Frankfurt als utopischer Ort präsentiert, der jedem seinen Platz bietet.
… auf der anderen Gewalt und Zerstörung

Auf der anderen Seite der Straße: Johnny Klewer (Hanno Pöschl), der seine Schergen eine Bombe bei einem Konkurrenten auf dem umkämpften Glückspiel-, Prostitutions- und Drogenmarkt platzieren lässt. Von Klewer wird den Film über nur Gewalt und Zerstörung ausgehen. Mit einem Stück Würfelzucker wird er einer Prostituierten das Gesicht zerschneiden. Intrigant wird er Susanne mit den Versprechungen von Modelkarriere und Liebe zur Edelhure machen wollen. Er wird töten und töten lassen. Und über ihn wird die Stadt Frankfurt – sonst nur über ihre Bahnhofsviertel verstanden, also als ein Ort, der sich zwischen Puff und Imbiss aufspannt – mit dem Glanz der Immobilien- und Bankenviertel verbunden. Dort befinden sich nämlich die grauen Eminenzen des Rotlichtmilieus, die durch Leute wie Klewer das Geld abschöpfen lassen, sich selbst aber nicht die Hände schmutzig machen. Unmissverständlich argumentiert Frankfurt Kaiserstraße, dass der Preis für die Freiheit die Existenz des Teufels ist.

Grau ist dabei höchstens der allgegenwärtige Beton. Statt Zwischentönen gibt es Kontrastreiches und Grobes. Susanne wird Teil einer Kolportagegeschichte, während Rolf und Ossi in ihren jeweiligen Ausprägungen von Melodramen enden – der eine erlebt eine Dreiecksliebesgeschichte, der andere ein eigenwilliges Ehedrama. Auch wenn Frankfurt Kaiserstraße die offensichtlichen dramaturgischen Entscheidungen ein wenig umschifft, ist das alles in seinen Einzelteilen reißerisch, oberflächlich und kaum ausgearbeitete Skizze. Jede Menge Zeitkolorit findet sich in den Straßenzügen, in der Ausdrucksweise, in den Kleidern und Accessoires. Das sind aber auch die einzigen Anzeichen von Realismus.
Die Verbissenheit eines Fassbinder-Films exorzieren

Doch an Einzelschicksalen ist der Film auch nur marginal interessiert. Seine Stärke sind eben seine schroffen Gegenüberstellungen. Die comichaften Momente – wenn beispielsweise Ossi im Glamourkleid von der Bühne stürzt, um jemanden zu verprügeln, der Susanne belästigt – stehen neben den intimen – vor allem denen von Verlorenheit. Der Themenfilm neben dem unbestimmten Schlendern durch eine offene Welt. Fassbinder steht neben den Kennzeichen einer Lisa-Film-Produktion.

Vor Frankfurt Kaiserstraße veröffentlichte die Lisa eine kleine Reihe von Jess-Franco-Filmen wie Die nackten Superhexen vom Rio Amore (Linda, 1981) oder Cal Schenkels rohen, energiegeladenen Thriller Kalt wie Eis (1981), direkt im Anschluss kamen Piratensender Powerplay (1981) und Banana Joe (1982). Und genau dieser Hang zu Sex, Gewalt und Entertainment ohne Scham scheint die Verbissenheit des potenziellen Fassbinder-Films zu exorzieren, ihm stattdessen einen Spazierrhythmus zu geben, wie die Exploitation vice versa durch die Brüchigkeit der Verfremdung persönlich wird. Das Spiel des offensichtlichsten Bindegliedes zum Enfant terrible des damaligen deutschen Films, Fassbinder-Alumni Kurt Raab, liegt passenderweise kaum entwirrbar zwischen hysterischer Künstlichkeit und den Possen von Ein Käfig voller Narren (La cage aux folles, 1978).

Der Film wird von einem Lachen beendet, das ein Happy End und ebenso den finalen Wahnsinn kennzeichnen kann. Die Widersprüche finden keine Auflösung, wodurch Frankfurt Kaiserstraße das Kunststück gelingt, mit Allgemeinplätzen von einem Schicksal zu erzählen, in das Naivlinge mit blauen Augen rennen, weil sie nicht wissen, wie unerreichbar ihre Wünsche sind. Der Film selbst hat sich nämlich genug von dieser Blauäugigkeit bewahrt und steht selber auf der Seite der Suchenden. Die Freiheit, die Scheiß-Freiheit, das Sehnsuchtsobjekt der Figuren und die auf sie losgelassene Marter, sie nimmt sich Frankfurt Kaiserstraße heraus, um frei nach Schnauze von seiner Sicht auf die Wirklichkeit zu erzählen.
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