Ein wirklich junges Mädchen – Kritik

Eine Neue an der heterosexuellen Frontier: In ihrem Debütfilm begibt sich Catherine Breillat mit ihrer jungen Protagonistin auf Erkundungen in bereits vermintem Gebiet. Ein wirklich junges Mädchen ist ein Coming-of-Age-Western, der keinen Showdown und kein Erwachsenwerden kennt.

Ein Zug fährt ein, da kommt jemand „into town“, vielleicht deutet sich Unheil an. Catherine Breillats Debütfilm, im Deutschen mit dem entsprechend archetypischen TV-Titel Ein Mädchen versehen, ist ein bisschen auch ein Western. Nachdem die Neue zwar keinen Saloon, aber das Haus ihrer Eltern betreten hat, ist die stickige Luft beim Frühstück mit so viel gespannter Langeweile gesättigt wie die berühmte Anfangsszene von Spiel mir das Lied vom Tod (1968). Auch die Fliegen hört man in diesem Film immer wieder vor sich hin brummen.

Wer da „into town“ kommt, ist Alice, ein wirklich junges Mädchen, wie es der Originaltitel Une vraie jeune fille und der deutsche DVD-Titel des Films bezeugen. Noch im Zug stellt sie sich per Voice-over vor, etabliert das Setting, die Sommerferien einer Internatsschülerin, und was die Protagonistin von diesem hält, nämlich nichts. Ferien sind hier keine Befreiung, sondern Rückkehr in die beklemmende Kleinbürgerlichkeit der Herkunft.

Kinowerden des Fernsehers

Spielt der Western das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Recht und Gesetz häufig unter strengen Laborbedingungen durch, wirkt dort mitunter noch eine weitere Kraft, die alles mit sich reißt: Da können sich dann Männer mit Hüten anfunkeln, wie sie wollen, irgendwo wird immer gerade eine Eisenbahnstrecke gebaut, im Hintergrund wird alles anders. Ein wirklich junges Mädchen durchzieht eine ähnliche Kraft, nur ist es zunächst nicht der historische Fortschritt von draußen, es ist das dort drinnen erwachende körperliche Begehren, ein durchaus aggressives, forsch experimentierendes Begehren, noch mit einem Bein im Polymorph-Perversen, der Rest schon neugierig auf das sexuelle Erwachsensein.

Im Film ist dieses Erwachen auch das Kinowerden eines Fernsehapparats. Für die Familie nicht mehr als ein Statusobjekt, dem man beim Essen mit flüchtigen Blicken ein wenig Aufmerksamkeit schenkt, wird der TV-Bildschirm für Alice zur Projektionsfläche, Heimat der Verheißungen: Ein sexy Chanson-Rocker singt „Je m’en fou“, denn ihm ist alles egal (Breillat selbst hat die Lyrics der Songs geschrieben), und auch dem Film ist auf einmal alles egal außer der Blickachse zwischen weiblichem Gaze und dem männlichen Körper auf dem Screen. Wenn Alice später den heißen Jim entdeckt, der für ihren Vater arbeitet, dann wiederholt sich die Szene ohne Fernseher: Alice blickt verstohlen zwischen den Holzpaletten hindurch, Jim ist ganz Objekt der Begierde: raucht wie in der Marlboro-Werbung, verwechselt die Trinkpause mit einem Wet-T-Shirt-Contest, blickt geheimnisvoll zurück.

Im Reich der Fantasie

Nicht nur flotte Männer, überhaupt alles hat für Alice einen libidinösen Gebrauchswert, bevor es einen bedeutsamen Tauschwert bekommt. Das eigene Erbrochene, in dem sie einmal aufwacht, der Ohrenschmalz, der Urin, überall ist Schmutz und Dreck, und alles ist aufregend. Die Körperflüssigkeiten schmieren das Scharnier eines Portals, mit dem Ein wirklich junges Mädchen immer wieder scheinbar übergangslos ins Reich der Fantasie wechselt. In einer ersten von zwei längeren fantastischen Szenen mit Jim liegt Alice nackt in den Dünen, während Jim ihrem Geschlecht nicht mit dem eigenen näherkommt, sondern mittels eines verstümmelten Regenwurms. Die folgende Großaufnahme versucht sich an einer ikonischen Machtumkehrung: die Wurmabteile als ein paar lächerliche Phallini, die sich im Schamhaargestrüpp einer den ganzen Bildkader ausfüllenden Vulva verlaufen. (Auch der väterliche Penis wird später noch provinzialisiert.)

Eine Fantasie ist der Film aber nicht nur in diesen surrealen Sequenzen, sondern generell: Jedes Bild ist durch Alice affektiv gefärbt, bevor es uns irgendeine Information vermittelt. Sie begehrt Jim nicht, weil der attraktiv und sexy ist, sondern Jim ist attraktiv und sexy, weil Alice ihn begehrt. Sie verachtet die Eltern nicht, weil diese albern und nervig sind, sondern die Eltern sind albern und nervig, weil Alice sie verachtet. Und sie verliert sich in Breillats Film nicht deshalb, weil dieser so rätselhaft ist, sondern der Film ist so rätselhaft, weil Alice sich verliert, selbst im überzeugt vorgetragenen Voice-over noch halb Kind ist, das sich auf die Dinge noch einen Reim machen muss, aber schon selbst reimen will.

Das Selbst als Gefährt und Gefängnis

Das ist der ästhetische Kern von Ein wirklich junges Mädchen: Obwohl die Perspektive radikal subjektiv ist, scheint hier kein souveränes Selbst-Bewusstsein am Werk. Gaze und Screen lassen sich nicht so einfach voneinander trennen wie in der Szene mit dem Fernseher, und Alices Gaze ist nicht zuletzt bestimmt durch die Screenhaftigkeit des weiblichen Körpers in Geschichte und Gegenwart – zumal in der Gegenwart des Films, den frühen 1960er Jahren. Ein Reifeprozess als Tortur: Es gibt keinen Blick in den Spiegel, der nicht schon von vornherein auch ein internalisierter Blick von außen ist, kein Selbstgefallen, das nicht am vorgestellten Gefallen der anderen geschult wäre. Und keine eigene Sexualität, die jenseits sexueller Machtverhältnisse mal eben erkundet werden kann. Das wird nirgends so plakativ und eindrücklich geschildert wie in der albtraumartigen Szene, in der ein Fremder während einer wilden Achterbahnfahrt auf dem Jahrmarkt neben Alice sein Glied rausholt und verlangt, dass sie es anfasst.

So steckt im Debütfilm schon sehr viel von dem, was Breillats späteres Werk ausmachen wird. Das Selbst ist Gefährt und Gefängnis zugleich, das Subjekt insistiert und ist doch bereits unterworfen, und dem Begehren wohnt nicht die radikale Autonomie inne, die ihm manchmal zugeschrieben wird. Das macht Breillats Filme zugleich sadistisch und masochistisch, sexuell und unerotisch, feministisch und fatalistisch. „Ich mag es lieber am Abend, da ist es trauriger“, sagt Alice einmal zu Jim, als sie über Sex reden.

Ein klarer Wunsch

Wer in Ein wirklich junges Mädchen allerdings nur freudlosen Frust und einen störrischen Pessimismus ausmacht, verkennt nicht nur die Sinnlichkeit against all odds dieses Films, sondern ignoriert auch entscheidende Plot Points: Als Jim und Alice zueinander gefunden haben und im Auto rummachen, bricht Alice irgendwann ab. Irritiert fragt Jim endlich jene entscheidende Frage: „Was willst du?“ „Die Pille“, antwortet Alice entschieden, es gebe sie ja schon in der Schweiz, „also guck mal, wie du da rankommst“.

Nanu: So rätselhaft ist dieses Begehren gar nicht, so unklar die Wünsche ja doch nicht! Doch die Befreiung liegt eben nicht im Empowerment der Einzelnen, sondern im Umbruch, im Wandel der Verhältnisse. Nicht im zielgerichteten Experimentieren, sondern im Schaffen der materiellen Bedingungen, die lustvolle Experimente ohne machtvolle Verwerfungen erst erlauben. Breillats Film ist ein Western, der den Showdown zwischen Individuum und Gemeinschaft als polymorph-perverses Spektakel inszeniert, aber eigentlich nach dem Bau der nächsten Eisenbahnstrecke horcht, nach der Kraft sich sehnt, die alles mit sich reißt.

Zur Einführung und Übersicht unserer Catherine-Breillat-Reihe geht es hier.

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