Eddington – Kritik

Ari Asters Eddington ist eine Parabel aus der unheimlichen Fast-Vergangenheit von Pandemie und Black-Lives-Matter. Außer dem Mut, in eine filmisch noch recht unerschlossene Epoche vorzudringen, zeichnet den Film leider wenig aus.

Zwischen Geschichte und Gegenwart gibt es so etwas wie ein zeitliches Uncanny Valley. Der Gruselgraben der rezenten Vergangenheit. Meist liegt er grob 3-15 Jahren zurück. Diese Zeiten sind nicht mehr aktuell im Sinne einer erweiterten Gegenwart – so, wie beispielsweise der 24.Februar 2022 oder der 7. Oktober 2023 gewissermaßen noch andauern. Aber sie sind auch noch nicht zur historischen Epoche verarbeitet. Sie sind noch nicht zu jenem vergangenen Anderen geworden, in Abgrenzung zu dem sich unsere Jetztzeit definiert – wie der 11. September 2001 oder die Finanzkrise(n) 2007ff. Diese Zeiten wirken fort, sie suchen die Gegenwart heim. Solange das kollektive Gedächtnis noch nicht das Urteil gesprochen hat, was bewahrt, was verdrängt, was als Retro wieder cool werden darf, sitzen sie unbehaglich zwischen heute und damals. Sie destabilisieren. Man denkt ungern an diese Jahre, weil es noch keine festen sozialen Skripte gibt, wie man sie einzuordnen hat.

Post-Covid-Kater

In einem solchen zeitlichen Gruselgraben siedelt Ari Aster seine Fabel über die imaginäre Kleinstadt Eddington, New Mexico, an – genauer gesagt spielt der Film im Frühsommer 2020, der Spätphase von Trumps erster Amtszeit. Die Pandemie ist in vollem Schwung, es herrschen Maskenpflicht und Versammlungsverbot – bis die Black-Lives-Matter-Proteste nach der Ermordung George Floyds halb Amerika auf die Straße bringen. Auch im beschaulichen Eddington. Mittendrin ist Sheriff Joe Cross (Joaquin Phoenix), Typ Beta-Mann kurz vor dem Entgleisen. Gleich zu Beginn findet er sich, schwer atmend unter seiner widerwillig aufgezogenen OP-Maske, in einem Supermarkt voller FFP2-Besserwisser wieder, die unter kollektivem Jubel einen alten unmaskierten Mann rausschmeißen. “So behandelt man doch keinen Menschen”, echauffiert sich Cross – und schaut in die schweigende Runde voller strenger Augen in halb-vermummten Gesichter.

Aster framt die Szene als scharfe Gegenüberstellung eines Individuums und einer zombieähnlichen Masse, ein Gesicht versus eine Menge aus Masken. Es ist der Blick des Skeptikers auf die verhärteten Tugendwächter, der Blick eines, der zu zweifeln und bald zu driften beginnen wird. Der Moment ist der erste von einigen im Film, der triggert – weil er einen gesellschaftlich noch nicht befriedeten Konflikt, eine bis dato unverarbeitete soziale Frage aufruft. Wie haben wir uns kollektiv verhalten in der Pandemie? Haben wir Menschen ungebührlich ausgegrenzt? Hat es uns an Empathie gemangelt gegenüber denen, die sich gegen (Freiheits-)Einschränkungen intuitiv sträubten?

Beta Male in Fable-Town

Nach der Erfahrung mit der Maskenarmee hat Sheriff Cross genug – und kandidiert für die anstehende Bürgermeisterwahl. Sein Konkurrent ist der Lockdown-Befürworter und Sympathiebolzen Ted Garcia (Pedro Pascal). Die Auseinandersetzung zwischen den beiden ist nicht klar entlang politischer Lager organisiert (Democrats vs. Republicans), sondern fügt sich den mythischen Kategorien des Westerns. Mann gegen Mann, Alpha gegen Beta, Aufschneidertum gegen Groll. Die beiden entzweit ein fast schon Soap-Opera-haftes Drama um Cross’ depressive Frau Louise (Emma Stone), aber auch ihre divergierenden Blicke auf die Pläne eines reichen Industriellen, in der Nähe der Stadt ein Datenzentrum zu bauen. Wie die Stadt schon halb auf dem Weg in die digitale Welt ist, sind auch die Bildwelten Ari Asters bereits mit einem Fuß im Postfaktischen angekommen: Überall Bildschirme und erklingen Podcasts, alle Leute filmen einander und sich selbst. Wie ephemere Winde wehen die digitalen Bilder durch die filmische Wirklichkeiten Eddingtons, die sich manchmal zu Stürmen verdichten und die Realität erfassen können.

Eddington will ganz ungeschminkt eine Allegorie sein; “irgendeine” amerikanische Stadt, in der alle großen sozialen und ökonomischen Konflikte dieses überhitzenden Landes wie unter einem Brennglas hervortreten. Die Anlage erinnert an die Comedy-Serie South Park – und krankt an deren Grundproblem: Je absurder die Realität wird, desto schwerer hat es die überspitzte Beschreibung, hinterherzukommen. Während jedoch Trey Parker und Matt Stone in South Park immer mal wieder Treffer landen, weil sie echte Anarchisten sind und keinerlei Tabus akzeptieren, will Eddington ernste moralische Fragen aufwerfen – und scheitert damit gründlich.

Flirt mit reaktionären Blicken

Der Film kann sich nicht entscheiden, was er sein will. Eine politische Satire will er unbedingt sein, aber es gibt nichts zu lachen. Außerdem flirtet Aster recht hemmungslos mit Western-Motiven, aber entwickelt trotz Überlänge nie epische Aspirationen. Seine Geschichte ist tragisch strukturiert, und doch gibt es nichts zu lernen außer Zynismus. Joaquin Phoenix spielt seinen Sheriff Cross wie in einem Charakterdrama, der Film allerdings beobachtet ihn empathielos wie in einer Versuchsanordnung.

Vor allem aber ist der Film biased. So erfolgreich er die anfangs erwähnten Abwehrreflexe gegen die unheimliche, weil noch nicht verarbeitete Vergangenheit triggert: Er macht das nicht, weil er ungemütliche Einsichten bereithält oder unterdrückte Perspektiven zeigt. Er triggert vor allem, weil er mit reaktionären Blicken kokettiert. Die Maskenmenschen sind gleichgeschaltete anonyme Kollektive. Die Black-Lives-Matter-Demonstrierenden sind hysterische, woke Critical-Whiteness-Terrorist*innen. Und Sheriff Whites depressive Ehefrau ist eine von Verschwörungstheorien und Gurus verführte Puppe. Demgegenüber steht er selbst als einer, der sich abstrampelt, alle an weiße Cis-Männer insgesamt und Mandatsträger im Besondern gestellten Erwartungen der Rücksichtnahme und Selbstbeschränkung zu erfüllen – und dem am Ende die Lunte abbrennt.

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