Dry Leaf – Kritik

14 Films Festival: Alexandre Koberidzes prekär unscharfes, archaisch gestriges Fußball-Roadmovie Dry Leaf schlägt sich wie ein Pyro-Fan auf die Seite der Vernebelung. Und lernt vom trockenen Laub und vergeistigten Superkickern, wie man mit minimaler Kontrolle Tore schießt.

Ob Pyrotechnik in Fußballstadien ein Verbrechen oder doch Ausdruck gelebter Fankultur ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Juristisch ist die Sache klar. Ästhetisch schon weniger. Besonders in feuchtkalten Monaten verdichten sich die Ausdünstungen bengalischer Feuer zu undurchdringlichen Schwaden und schieben sich zwischen Flutlicht und Rasen. Dann muss der Schiedsrichter das Spiel unterbrechen; schlechte Sicht ist im durchtechnologisierten Unterhaltungsprodukt Fußball unbedingt zu vermeiden – weniger aus Rücksicht auf die Spieler als auf die hunderten Übertragungskameras, die das Spielgeschehen aus jeder Perspektive einkesseln und zu Bildern verwerten. Die Vernebelung hebelt diese totale Sichtbarkeit aus. Selbst der Videobeweis hat dann nichts mehr zu melden. Seine zweifelhafte Methode der Wahrheitsfindung beruht auf der Behauptung, alles millimetergenau und hochauflösend ins Bild setzen zu können, doch das wird durch die milchige Aerosolsuppe hindurch schwierig: hier eine Kniescheibe, da ein abgespreizter Zehnagel im Abseits – wer könnte das noch sicher sagen?

Alexandre Koberidze hat nicht vergessen, dass der Wesenskern des Fußballs nicht in der Leistungsfähigkeit der neusten Aufzeichnungstechnik, sondern in der Freude am Spiel besteht. In seinem letzten Film Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? (2021) zeigt er einen Haufen Kinder minutenlang beim Fußballspielen, noch dazu in Zeitlupe: unbeschwerte Leidenschaft, strahlende Gesichter und Gianna Nanninis Un‘estate italiana, die Hymne der WM 1990. Was Koberidze von den Reizthemen Videobeweis und Pyrotechnik hält, ist nicht bekannt. Auch sein neuer Film Dry Leaf bezieht dazu nicht explizit Stellung. Doch in seiner Entwicklung eines ästhetischen Programms lotet er die Grenzen des Sichtbaren auf spielerische Weise aus und schlägt sich dabei eindeutig auf die Seite der Vernebelung.

Bellt die Kuh, muht der Hund? Ist der Mann mit dem schwindenden Haupthaar Mario Basler?

Der Film ist auf einem niedrigauflösenden Sony Ericsson Handy (Baujahr 2008) gedreht und sieht auch genauso aus. Bereits für seinen ersten Langfilm Lass den Sommer nie wieder kommen (2017) hat Koberidze diese Kamera verwendet. Ihre nahezu archaische Gestrigkeit hat eine prekäre Unschärfe zur Folge, die sich einer Befragung des Bildes auf seinen Informationsgehalt radikal entzieht. Aus wabernden Pixelformationen lassen sich keine Geltungsansprüche ableiten. Die Objekte verlieren an Konturen und gewinnen an Ambivalenz. Gegenständliches wird abstrahiert. Liegen da Pfirsiche oder Eierschalen auf dem Tisch? Bellt die Kuh oder muht der Hund? Ist das Blatt vollkommen ausgetrocknet oder doch noch ein klein wenig saftig? Und ist der Mann mit dem schwindenden Haupthaar etwa Mario Basler?

Sichtbarkeit und Präsenz sind nicht das gleiche. Auch ein Ball wäre gut.

Nein, Mario Basler ist er nicht, aber der beträchtliche Unschärfegrad von Dry Leaf lässt Fragen dieser Art durchaus zu. Der Mann heißt David Koberidze und ist der Vater des Filmemachers. Im Film heißt er Irakli und sucht nach seiner Tochter Lisa, die verschwunden ist. Allerdings nicht spurlos: Sie ist im Auftrag eines Sportmagazins unterwegs, um eine Fotoreportage über Fußballfelder in den entlegenen Regionen Georgiens zu machen. Obwohl sie per Brief darum bittet, ihr nicht nachzureisen (schließlich ist sie schon 28 und ihr Verschwinden selbstbestimmt), begibt sich Irakli auf die Suche nach ihr. Begleitet wird er von Levan (Otar Nijaradze), einem Freund Lisas, der, wie einige andere Menschen in Dry Leaf, unsichtbar ist.

Koberidze weiß, dass Sichtbarkeit und Präsenz nicht das gleiche sind. Er filmt Levan mit der gleichen bildgestalterischen Aufmerksamkeit wie die sichtbaren Menschen. Wenn Levan spricht, setzt die Kamera das ins Bild; wenn er läuft, schwenkt sie mit. Nur ist dann halt nicht Levan zu sehen, sondern ein leerer Autositz oder die verblühende Heide. Das ist kein albernes So-tun-als-ob, sondern aufrichtiger Respekt für die Mittel der Fiktion, derer sich Filme sowieso ständig bedienen. Dieselbe Fiktion ist übrigens am Werk, wenn ein kleiner Junge zwischen Laternenpfosten, Garagentor und Kartoffelacker das Champions League Finale nachspielt und so tut, als wäre er beispielsweise Mario Basler.

Im geräumigen Subaru durchkurven Irakli und Levan die Hügel und Brauntöne des Hinterlands, was stellenweise an die 1990er-Filme von Abbas Kiarostami erinnert. Viel mehr passiert über die 186 Minuten (oder in Fußballzeit: zweimal 90 Minuten plus Nachspielzeit), die Dry Leaf dauert, nicht. In jedem Dorf fragen sie die Anwohner*innen nach dem örtlichen Fußballplatz. Meistens gibt es einen; zum Fußballspielen braucht es schließlich vor allem eine freie Fläche und ein bisschen Vorstellungskraft. Auch ein Ball wäre gut, aber richtig Fußball gespielt wird in Dry Leaf nur ganz selten. Es geht um Begegnungen und Abschiede. Von Menschen, von Flora, von Fauna. Je nach Lichtverhältnissen sind die Spielfelder kaum als solche zu erkennen, nur die mal mehr, mal weniger improvisierten Torpfosten deuten darauf hin, dass hier gelegentlich „das Runde ins Eckige“ befördert worden sein muss.

144p: Schönheit der Pixel

Wobei das mit dem Runden in einem Film mit einer Auflösung von 144p nicht selbstverständlich ist. Die Bildelemente streben notgedrungen zur Eckigkeit, verkanten sich ineinander, ohne jedoch zu erstarren. Durch die datensparende Komprimierung des Videoformats wandelt das Bild permanent seine Gestalt. Selbst in der statischsten Einstellung beginnen die Pixel zu tanzen, im beständigen Rhythmus zu pulsieren. Sie verschieben sich einer geheimen Vereinbarung nach, wie die Abwehrketten in der ballorientierten Raumverteidigung. Besonders ergiebig wird dieser Effekt, sobald die Kamera die Elemente walten lässt und so die Flüchtigkeit des Dargestellten vervielfältigt: Der Wind fegt durch die Bäume und bringt die Blätterpixel zum Zittern. Eine menschliche Silhouette vor gleißender Wasseroberfläche im Abendlicht erinnert plötzlich an das Ende von Viscontis Tod in Venedig. Selbst einer Autowäsche – zweifellos eine der profaneren Tätigkeiten des modernen Lebens – entlockt Koberidze eine verblüffende Schönheit, die nicht nur das Auto, sondern auch die Sinne reinigt (auch wenn das kitschig klingt).

Trash-Impressionismus mit voluminöser Tonspur

Das Spannende an Dry Leaf ist genau das Changieren zwischen Hässlichkeit und ästhetischem Glanz, was in Summe auf eine Art Trash-Impressionismus hinausläuft. Spätestens wenn eine Schale mit Äpfeln wirkmächtig inszeniert wird, denkt man an die Apfel-Studien von Cézanne, die auch Hong Sangsoo als nachhaltigen Einfluss auf sein Filmschaffen anführt (Hong ist vielleicht der passionierteste unter den Trash-Impressionisten). Zum Gemälde fixieren lassen sich die wabernden Farb- und Formspiele von Dry Leaf dennoch nicht. Das liegt auch an der voluminösen Tonspur, die einerseits aus den Umgebungsgeräuschen besteht (möglicherweise wird gelegentlich etwas Sony Ericsson-Originalaudio beigemischt), und andererseits musikalisch umspült und umsprudelt wird. Anders als die Bilder ist die munter in alle Richtungen drängende Musik (Giorgi Koberidze, Alexandres Bruder) von sensorischer Zurückhaltung weit entfernt, was immer wieder für Überfrachtungseffekte sorgt, die das Primat des Visuellen herausfordern.

Überall Kreise und Linien. Alles der Willkür der Luftmassen überlassen

Die Suche nach Lisa gerät zur Nebensache, sie wird in das filmische Abstraktionsprogramm integriert: Bevor Irakli zum Roadtrip aufbricht, malt er eine Linie und einen Kreis an die Tafel (was den schönen Effekt hat, dass man danach überall Kreise und Linien zu sehen glaubt). Mit dem Kreis könnte die Bewegung von Iraklis Reise beschrieben werden; irgendwann wird er dahin zurückkehren, wo er herkam. Mit der Linie könnte man die Flugbahn eines Balles nachzeichnen. Schließlich bezieht sich der Titel Dry Leaf auf den brasilianischen Edeltechniker Didi (Weltmeister 1958 und 1962), der bei Torhütern für seine perfide Schusstechnik gefürchtet war. Didis Kunst bestand darin, dem Ball beim Schießen möglichst wenig Rotation mitzugeben, um ihn – wie ein trockenes Blatt – der Willkür der Luftmassen zu überlassen. Weder Schütze noch Torwart wissen einen solchen Schuss einzuschätzen. Didis folha seca und Koberidzes Dry Leaf teilen die Überzeugung, dass die richtige Technik zum Ziel führen kann – wenn man mit ihr nicht alles kontrollieren will.

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